
Über die Notwendigkeit einer Pflegereform herrscht weitgehend Einigkeit. Prof. Dr. Heinz Rothgang, Thomas Kalwitzki und Benedikt Preuß (alle SOCIUM, Universität Bremen) zeigen in einem neuen Konzept wie die Pflegeversicherung mit Hilfe einer Finanz- und Strukturreform umgestaltet werden kann.
Im Auftrag der Initiative Pro-Pflegereform, die von über 120 Pflegeunternehmen und mehr als 60 Verbänden und Organisationen unterstützt wird, haben die Bremer Wissenschaftler ein Konzept für eine Alternative Ausgestaltung der Pflegeversicherung (AAPV) ausgearbeitet. Mit der Reform soll den drängendsten Problemen – der individuellen Lebensstandardsicherheit im Falle einer Pflegebedürftigkeit, der gefährdeten Versorgungssicherheit durch verringerte Pflegekapazitäten und den Finanzierungsproblemen der Pflegeversicherung – begegnet werden. Die Autoren schlagen drei Reformschritte vor, dessen erster im Sinne eines Sofortprogramms bereits im Jahr 2026 greifen soll. Insgesamt kann die Neugestaltung des Systems im Jahr 2030 abgeschlossen werden.
Begrenzung der Eigenanteile von Pflegebedürftigen durch Sockel-Spitze-Tausch
Die erste Reformstufe soll vor allem die kontinuierlich steigenden Eigenanteile von Pflegebedürftigen in Pflegeheimen begrenzen. Notwendige Maßnahmen sind die Kostenübernahme für die medizinische Behandlungspflege durch die Gesetzliche Krankenversicherung sowie die Finanzierung der Ausbildungskosten durch die Versichertengemeinschaft. Zentral für diese Reformstufe ist außerdem der von Prof. Rothgang und Thomas Kalwitzki in einem früheren Gutachten ausgearbeitete „Sockel-Spitze-Tausch“. Dieser dreht das System der Pflegeversicherung um: Während aktuell die Versicherungsleistungen begrenzt und die Eigenanteile der Pflegebedürftigen unbegrenzt sind, soll zukünftig ein stabiler Eigenanteilssockel für Pflegebedürftige entstehen und die Pflegeversicherung die unbegrenzte Kostenspitze tragen.
Pflegebedürftige in stationärer und ambulanter Versorgung sollen gleichgestellt werden
Mit der zweiten Reformstufe sollen bedarfsorientiert Leistungen auch im ambulanten Bereich ermöglicht und damit alle Pflegebedürftigen unabhängig davon, ob sie stationär oder in häuslicher Umgebung versorgt werden, gleichgestellt werden. Dies beinhaltet die Leistungen sowohl von professionellen Pflegediensten also auch für private und zivilgesellschaftliche Pflegeübernahme auszuweiten und dadurch die individuelle Ausgestaltung der Pflegesettings zu stärken. Maßnahmen dieser Stufe umfassen unter anderem die Weiterentwicklung des Pflegegelds zu einer Leistung für die Pflegenden, die Schaffung eines umfassenden Modul- und Leistungskatalogs für eine einheitliche Abrechnung sowie den oben beschriebene Sockel-Spitze-Tausch auch in der ambulanten Versorgung anzuwenden. Um die pflegerische Versorgung in der Zukunft zu sichern, beinhaltet diese Stufe außerdem eine Ausbildungsoffensive, mit Hilfe derer die Ausbildungskapazitäten verdoppelt werden sollen. So sollen bis Ende der 2030er Jahre rund 1 Million neue pflegerische Fach- und Assistenzkräfte ausgebildet werden.
Die letzte Reformstufe sieht eine sektorenfreie Versorgung vor, die innovative Wohn- und Pflegeformen sowie Laienpflege individuell und unabhängig vom Wohnort ermöglichen soll. Die zentrale Frage ist dann nicht mehr wo eine Pflegeleistung erbracht wird, sondern durch wen. Pflegebedürftige können ihre Wohnsettings dann frei wählen und finanzieren sie selbst, die Pflege kann sowohl von professionellen Pflegekräften als auch durch Laien, beispielsweise Angehörige, erfolgen.
Umfassende Refinanzierungsreform verhindert Beitragssteigerungen
Um den durch die Maßnahmen der zweiten und dritten Reformstufe entstehenden Ausgabensteigerungen zu begegnen, beinhalten diese auch eine umfassende Refinanzierungsreform, die die steigenden Ausgaben solidarisch verteilt und die eine Erhöhung des Beitragssatzes abmildert. Diese sieht Veränderungen in der Beitragsbemessung, einen Finanzausgleich zwischen sozialer Pflegeversicherung und privater Pflegeversicherung sowie einen Steuerzuschuss für die Pflegeversicherung vor.
„In Bezug auf den aktuellen Zustand der Pflegeversicherung und den Reformbedarf besteht seltene Einigkeit. Mit unserem Konzept legen wir einen Vorschlag vor, wie das System sofort und umfassend umgestaltet werden kann. Damit kann die pflegerische Versorgung in Deutschland nicht nur gesichert, sondern auch gerechter finanziert werden“, sagt Prof. Rothgang.
Links und Downloads:
Link zur Pressemittelung der Initiative Pro-Pflegereform
Kontakt:
Prof. Dr. Heinz Rothgang
SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik
Mary-Somerville-Straße 3
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-58557
E-Mail: rothgang@uni-bremen.de
Thomas Kalwitzki
SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik
Mary-Somerville-Straße 3
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-58544
E-Mail: thomas.kalwitzki@uni-bremen.de
Benedikt Preuß
SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik
Mary-Somerville-Straße 1
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-58647
E-Mail: bpreuss@uni-bremen.de