Vergleichende Gesellschaftsforschung
Die vergleichende Gesellschaftsforschung befasst sich mit den Strukturen und Dynamiken von Gesellschaften in vergleichender Perspektive. Dies umfasst sowohl internationale Vergleiche zwischen Ländern als auch längerfristige Prozesse sozialen Wandels innerhalb eines Landes. Dabei betrachtet unsere Arbeitsgruppe vornehmlich moderne Wohlfahrtsgesellschaften, deren institutionelle Ordnung eine wohlfahrtsstaatlich gerahmte kapitalistische Wirtschaft mit einer demokratischen politischen Ordnung kombiniert.Die westlichen Wohlfahrtsgesellschaften der OECD haben in den vergangenen Jahren vielschichtige Wandlungsprozesse durchlaufen. Auf sozialstruktureller Ebene ist hier ein Gestaltwandel sozialer Ungleichheitsverhältnisse zu konstatieren, der sich sowohl in einer Polarisierung materieller Ressourcen als auch in einer Verfestigung sozialer Lagen und stagnierender sozialer Aufstiegsmobilität dokumentiert. Auf institutioneller Ebene hat sich ein marktorientierter Wandel vollzogen, in dessen Folge Gewerkschaften geschwächt, Spitzensteuersätze gesenkt und statussichernde Sozialpolitik zugunsten von Aktivierung und Eigenverantwortung zurückgebaut wurden. Auf kultureller Ebene erleben wir einen Bedeutungsverlust kollektivistisch-egalitärer Werte zu Gunsten eines Bedeutungsaufstiegs von individualistischen Orientierungsmustern, etwa an Autonomie und Selbstverwirklichung.
Vor diesem Hintergrund interessieren wir uns besonders für die Wertorientierungen und Gerechtigkeitsvorstellungen sowie die Solidaritätsbereitschaften und Konfliktpotenziale, die mit diesen Entwicklungsdynamiken moderner Wohlfahrtsgesellschaften verbunden sind. Wir gehen dabei sowohl aus nationaler als auch aus international vergleichender Perspektive vor und kombinieren quantitative und qualitative Methoden.
Konkrete Forschungsvorhaben richten sich derzeit auf folgende Fragestellungen:
- Wertkonflikte und soziokulturelle Polarisierungen in den Mittelschichten: Einst Garant des gesellschaftlichen Zusammenhalts, sind die Mittelschichten inzwischen ökonomischen Polarisierungsdynamiken ausgesetzt, die ihre Integrationskraft herausfordern. Kommt es hierbei auch zu kulturellen Konfliktlinien zwischen marktaffinen, kosmopolitischen Gewinnern und traditional orientierten Verlierer-Milieus der Mitte? Im Rahmen des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt erforschen wir diese Fragen in dem Projekt „Gesellschaftlicher Zusammenhalt innerhalb und zwischen sozialen Milieus“.
- Die Corona-Krise und Vorstellungen einer neuen wirtschaftlichen Ordnung: Die Corona-Krise stellt ein Moment genuiner Ungewissheit dar, das etablierte Muster der gesellschaftlichen Organisation der Wirtschaft in Frage stellt. Vor diesem Hintergrund untersuchen wir mit Hilfe innovativer Computational Social Science-Methoden, wie die ökonomischen Folgen der Krise im öffentlichen Diskurs debattiert werden und inwiefern hierbei Vorstellungen einer fairen und nachhaltigen Wirtschaftsordnung an Bedeutung gewinnen. Wir gehen diesen Fragen in dem von der VolkswagenStiftung geförderten Projekt „Corona Crisis Narratives – Framing Economic Imaginaries post-2020 (CoroNarrate)“ nach.
- Kultur und Politik der Vermögensbesteuerung: Die Konzentration ökonomischer Ressourcen in den oberen und obersten gesellschaftlichen Statuslagen geht auch auf die Reduktion der steuerlichen Belastung von Vermögen und hohen Erwerbseinkommen seit Mitte der 1990er und 2000er Jahre zurück. Wie wurden diese steuerlichen Entlastungen gegenüber nicht-vermögenden Bevölkerungsmehrheiten begründet und gerechtfertigt?