13. Mai 1945 - 27. Mai 2022

Wir trauern um Prof. Dr. Gerd Glaeske, Gesundheitswissenschaftler und Pionier der Versorgungsforschung, der im Alter von 77 Jahren am 27. Mai nach langer Krankheit verstorben ist.

Gerd Glaeske verstand seine Arbeit konsequent im Dienst der Wissenschaft und im Auftrag der Patientinnen und Patienten. Vorrangig bedeutete das für ihn, die medizinische Versorgung mit Arzneimitteln unter dem Gesichtspunkt der Evidenz zu analysieren – sowie Nutzen und Risiken abzuschätzen und zu bewerten. Über seine gesamte berufliche Laufbahn folgte er dabei drei zentralen Fragestellungen: Wo und in welchen Krankheitsbereichen kommt es zur Über-, Unter- oder Fehlversorgung mit Arzneimitteln, welche Alternativen bieten Pharmaindustrie und Gesundheitswesen und wie können Politik und Gesetzgeber den Prozess der Arzneimittelversorgung im Interesse der Patientinnen und Patienten verbessern?

Gerd Glaeskes außerordentliche Expertise und sein Wunsch, mehr Licht in das Dunkel der deutschen Arzneimittelversorgung zu bringen, äußerten sich in zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen. Allein in der internationalen Fachdatenbank für medizinische Literatur pubmed.gov finden sich mehr als 140 Veröffentlichungen mit seiner (Co-)Autorenschaft. Darüber hinaus hat er als (Mit-)Herausgeber des „Lehrbuchs für Versorgungsforschung“ maßgeblich daran mitgewirkt, das Fach Versorgungsforschung in Deutschland zu etablieren und die Studierenden an dieses Fach didaktisch fundiert heranzuführen.

Als Fachapotheker für Arzneimittelinformation im besten Sinne lag ihm der Transfer der wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse zur Arzneimitteltherapie in die breite Öffentlichkeit besonders am Herzen. Spektakulär arbeitete er bereits in jungen Jahren als fachlicher Berater für das erste große Medikamenten-Nachschlagewerk im deutschen Sprachraum, „Bittere Pillen“ (1983). Dieses Buch wurde über Jahrzehnte als „die“ Bibel zur Verhinderung von Arzneimittelmissbrauch bezeichnet. Es folgten eine Vielzahl von Publikationen für die Stiftung Warentest und Bücher, die sich direkt an die Patientinnen und Patienten richteten, begleitet von zahlreichen Interviews, Hörfunk- und Fernsehbeiträgen.

Gerd Glaeske studierte Pharmazie in Aachen und Hamburg, wo er in pharmazeutischer Chemie mit den weiteren Prüfungsfächern Wissenschaftstheorie und Pharmakologie promovierte. Seine wissenschaftliche Laufbahn begann er 1981 als Mitarbeiter am Bremer Institut für Sozialmedizin und Präventionsforschung (BIPS) sowie als Abteilungsleiter der Arzneimittelepidemiologie unter der Institutsleitung von Prof. Dr. Eberhard Greiser.

Vor dem Hintergrund seines gesundheitspolitischen Engagements entschied sich Gerd Glaeske ab 1988 den engen wissenschaftlichen Kontakt mit den Gesetzlichen Krankenkassen zu suchen. Das führte ihn von 1988 bis 1992 zur AOK Mettmann. Als Leiter des Pharmakologischen Beratungsdienstes gewann er differenzierte Einblicke in die Daten der Krankenkasse und konnte mit der entsprechenden Analyse bisher unbekannte Versorgungsstrukturen, regionale und fachärztliche Unterschiede und Fehlentwicklungen erkennen. Es war unter anderem der Beginn der Versorgungsforschung, die heute in einem breiten Netzwerk universitär etabliert und anerkannt ist. Von Mettmann wechselte er nach Wuppertal zur Barmer Ersatzkasse und arbeitete weiter kontinuierlich an der Verbesserung der Versorgung bis 1999 bei verschiedenen Krankenkassen wie auch beim Verband der Ersatzkassen (vdek).

Im Jahr 1999 übernahm er an der Universität Bremen eine Stiftungsprofessur für Arzneimittelanwendungsforschung am Zentrum für Sozialpolitik (ZeS), um sich weiter der Wissenschaft zu widmen. Zudem leitete er die Forschungseinheit „Arzneimittelberatung und Arzneimittelinformation“.  Ab 2007 hatte er die Position des Co-Leiters der Abteilung Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik und Versorgungsforschung am ZeS sowie später der Abteilung Gesundheit, Pflege und Alterssicherung des SOCIUM der Universität Bremen inne. Als Mitbegründer und langjähriges Vorstandsmitglied des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung hat er zentral daran mitgewirkt, ein Fach an deutschen Universitäten zu etablieren, das es sich zur Aufgabe macht, die Gesundheitsversorgung kritisch zu analysieren und auf dieser Basis praktische, evidenzbasierte Lösungsvorschläge zur Verbesserung der Kranken- und Gesundheitsversorgung zu erarbeiten.

Gerd Glaeske analysierte Arzneimittel vom Molekül bis zur Anwendung präzise. Kritische Entwicklungen sprach er offen an und wandte sich bewusst gegen geschönte Studiendaten der Industrie. Die daraus entstehenden juristischen Auseinandersetzungen nahm er in Kauf. Hierbei verstand er sich immer und vor allem als Anwalt der Patientinnen und Patienten und im Einsatz für ein sozial gerechteres Gesundheitswesen.

Seine Expertise war gefragt

Von 2003 bis 2009 war Gerd Glaeske Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, 2003 bis 2018 Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Bundeszentrale für Wissenschaftliche Aufklärung (BZgA), von 2008 bis 2013 Mitglied in der Betäubungsmittelkommission des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), von 2007 bis 2009 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs beim BVA. Ab 2006 Mitglied im Vorstand des Deutschen Netzwerkes Versorgungsforschung (DNVF), bis 2014 im geschäftsführenden Vorstand, 2015 zum Ehrenmitglied auf Lebenszeit ernannt, ab 2008 Mitherausgeber der Zeitschrift Prävention und Gesundheitsforschung, ab 2010 stellvertretender Sprecher des Wissenschaftlichen Kuratoriums der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen.


Kontakt:
Prof. Dr. Philip Manow