Verbesserung der Outcomes in Sicht | Stabile Kontrolle: Würde und Humanität wahren | Diskursverengung vermeiden: Corona nicht politisieren

Die wichtigsten Botschaften auf einen Blick

(1) Nach der herdförmigen Ausbreitung (Cluster) dominiert jetzt die sporadische Dynamik: Zunahme der täglich neu gemeldeten Infektionen mit SARS-CoV-2/Covid-19 von ca. 300 Fällen/Tag auf derzeit ca. 1350 Fällen/Tag (34. KW), Ausweitung des wöchentlichen Testumfangs von 400.000 auf 900.000, Abfall der Rate positiver Testergebnisse 9% auf ca. 1% - neben den „Herden“ hat sich jetzt die homogene (sporadische) Ausbreitung in den Vordergrund geschoben. Diese Dynamik ist allein durch Testung und Nachverfolgung nicht zu beherrschen, sondern bedarf einer stabilen Kontrolle durch klug geplante, Zielgruppen-orientierte Präventionsmaßnahmen.

(2) Parallel zur Zunahme der gemeldeten Infektionen kommt es zu einer Abschwächung der klinischen Folgen: Die Zunahme der täglich neu gemeldeten Infektionen in den letzten fünf bis sechs Wochen ist nicht von einer Zunahme der Erkrankungen und Komplikationen gefolgt, stattdessen ist die Hospitalisierungsrate von über 20% auf 9% abgefallen, die intensivmedizinisch betreuten Patienten sanken von 3000 auf 230 und die Mortalität der Infizierten von 7% auf 0,4% (die Angabe der letzten
Wochen liegen noch niedriger, sind aber noch nicht abschließend zu bewerten). Bestätigt wird diese Tendenz durch das Patientenkollektiv, das die infizierten Mitarbeiter im Gesundheitswesen darstellen (n = 14.977 am 26.8.2020), wo die Dunkelziffer keine Rolle spielen sollte: hier liegt die Mortalität bei zwischen 0,12 und 0,16%. Als ursächlich für diese günstige Entwicklung sind die zunehmende Testung nicht-erkrankter Personen, ein jüngeres Durchschnittsalter und die Verbesserung der organisatorischen Abläufe in den Einrichtungen des Gesundheitswesens sowie der Pflegeeinrichtungen zu diskutieren. Es ist unklar, ob zusätzlich eine Veränderung des Virustyps vorliegt.


(3) Die sporadische Ausbreitung wird im begrenzten Umfang weiter zunehmen, kann aber aufgefangen werden: In einem groben Modell wird die weitere Ausbreitung durch vier Kompartimente determiniert: das „Grundrauschen“, die Reiserückkehrer, die Schul- bzw. Kindergartenöffnungen und die im Winter anstehende vermehrte Innenraumnutzung. Ein weiterer, auch deutlicher Anstieg der täglichen Neuinfektionen
kann daher nicht ausgeschlossen werden. Diese Situation ist zu bewältigen, wenn (1) spezifische Präventionsprogramme entwickelt werden, die die verletzlichen Gruppen schützen (unter aktiv umgesetzter Wahrung der individuellen Würde und Humanität), und
wenn (2) die Ressourcen des Gesundheitssystems (Organisation, Bettenkapazität) in der jetzigen Form aufrechterhalten werden. Therapie und Impfstoffentwicklung sind denkbare Lösungen, die Epidemie muss jedoch auch dann stabil kontrolliert werden, wenn sich hier Verzögerungen ergeben sollten.


(4) Bei massiver Ausdehnung des Testumfanges auf Niedrigprävalenz-Kollektive (Häufigkeit 1-3%) sind unkontrollierbare Probleme mit falsch-positiven Befunden zu erwarten, die von den Institutionen, die mit der Nachverfolgung beauftragt sind, nicht bewältigt werden können. Die Teststrategie muss daher auf die Strategie der Stabilen Kontrolle ausgerichtet sein, d.h. es müssen in erster Linie Kollektive mit höherer Prävalenz, Kollektive mit höherem oder unbekanntem Infektionsrisiko (z.B. Lehrer, Kindergartenmitarbeiter) und Kollektive mit hohem individuellem Risiko für Komplikationen (z.B. Bewohner von Pflegeheimen und deren Angehörige, ambulante Pflege) getestet werden.


(5) Die Definition der „Zweiten Welle“ sollte nicht auf starren Grenzwerten beruhen, sondern sich auf das Kriterium der mangelnden Abgrenzbarkeit von Herden und sporadischer Ausbreitung beziehen (ergänzt um eine regionale Komponente – mehr als 5 Gebietskörperschaften in mindestens zwei Bundesländern – und einen offiziell festgestellten Kontrollverlust).


(6) Primäres Ziel ist die „Stabile Kontrolle“ der Epidemie, eine Eradikation scheidet ebenso aus wie die Strategie der Herdenimmunität. Essentiell sind Zielgruppen-orientierte
Präventionsmaßnahmen für die besonders verletzlichen Gruppen in der Bevölkerung. Diese Schutzkonzepte müssen die Ziele der Infektionskontrolle genauso berücksichtigen wie Humanität und Würde der einzelnen Person, hierzu sind innovative Konzept zu entwickeln und umzusetzen.


(7) Mitarbeiter und Patienten/Bewohner/Betreute in den Institutionen des Gesundheitswesens, der Pflege- und Gemeinschaftseinrichtungen trugen zu Beginn der Epidemie mit bis zu 1000 Neuinfektionen pro Tag und fast 50% der Todesfälle durch Covid-19 in Deutschland einen großen Teil der Krankheitslast, jeweils zur Hälfte verteilt auf Mitarbeiter und Patienten/Bewohner/Betreute. 300 bzw. 200 gemeldete Neuinfektionen entfielen auf die Mitarbeiter im Gesundheitswesen und in den Pflegeeinrichtungen. Die Bewohner von Pflegeeinrichtungen wiesen in der Spitze bis zu 400 täglich gemeldete Neuinfektionen auf; diese Zahl ist auf ca. 20 Infektionen täglich abgefallen. Im Gesundheitswesen traten bei Patienten bis zu 80 (nosokomial erworbene) Neuinfektionen pro Tag auf, die Zahl lag in den letzten drei Wochen zwischen 0 und 18.

(8) Aktuell ist ein leichter Anstieg bei den Mitarbeitern und Betreuten der Gemeinschaftseinrichtungen nach §33 IfSG1 zu beobachten, der intensiver Beobachtung bedarf.


(9) Die Empfehlungen zum Tragen von Masken sind an die Baseline-Risiken anzupassen. Die durch Studien belegte relative Risikoverminderung um 80% bedeutet in
einem Hochrisikobereich (z. B. Gesundheitswesen, angenommene Infektionswahrscheinlichkeit 10%) eine absolute Risikodifferenz von 8%, so dass 12,5 Personen eine Maske tragen müssen, um eine Infektion zu verhindern, während in einem Niedrigrisikobereich (1 Stunde Aufenthalt Supermarkt, Infektionsrisiko von 0,01%) 12.500 Personen eine Maske tragen müssen, um eine Infektion zu verhindern.


(10) Corona nicht politisieren: Die Interpretation der epidemiologischen Situation und die Auseinandersetzung über die beste Strategie der Pandemiebekämpfung sollte nicht von Kalkülen kurzfristiger politischer Positionsvorteile dominiert werden und ist auch nicht als Gegenstand des anstehenden Wahlkampfes geeignet.


(11) Rationale Entscheidungsfindung, rationaler Diskurs: Auch die Pandemie rechtfertigt es nicht, von der Grundnorm einer begründet abwägenden Entscheidungsfindung abzugehen und die Erfordernisse eines transparenten, fairen und faktenbegründeten Diskurses zwischen Politik, Wissenschaft und Medien zu relativieren. Gerade in dieser Situation müssen die jeweiligen Rollenzuweisungen klar zu erkennen sein, um daraus abgeleitet die Verantwortlichkeiten in einem demokratischen Rechtsstaat abzugrenzen. Nur unter diesen Voraussetzungen ist es möglich, das Vertrauen der Bürger in die rechtsstaatlich demokratische Kommunikation zu stärken.

Link zum Thesenpapier 4.0


Kontakt:
Prof. Dr. Gerd Glaeske (verstorben)

Prof. Dr. Philip Manow
SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik
Mary-Somerville-Straße 7
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-58580
E-Mail: manow@uni-bremen.de