Autorenteam analysiert die Wirkungen der aktuellen Pflegereform

Als Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Herbst 2020 seine Vorstellung einer umfassenden und nachhaltigen Pflegereform vorlegte, waren große Teile der Fachwelt überrascht. Es sah so aus, als ob ein Kernproblem der deutschen Pflegeversicherung, die zu hohen Eigenanteile der Pflegebedürftigen bei Heimpflege, endgültig gelöst werden sollte. Durch eine abschließende Begrenzung der Eigenanteile in Höhe und Zahlungsdauer wäre endlich das Einführungsziel der Pflegeversicherung erreichbar geworden, pflegebedingte Sozialhilfeabhängigkeit zu verhindern. Hierdurch wäre dann auch der Weg zu einer Verbesserung der Pflegebedingungen frei gemacht worden, da entstehende Kosten nicht mehr zu Lasten der Pflegebedürftigen gegangen wären.

Letztlich sind von dieser großen Vision im Gesetzgebungsprozess nur noch Umrisse erhalten geblieben, die am 11.7.2021 im Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) ) durch den Bundestag verabschiedet wurden. Statt einer absoluten Begrenzung der Eigenanteile wurden im neuen § 43c SGB XI gestufte Leistungszuschläge beschlossen, durch die ab 2022 im ersten Jahre eines Heimaufenthalts 5%, im zweiten Jahr 25%, im dritten Jahr 45% und danach 70% der Eigenanteile durch die Pflegeversicherung übernommen werden. Dies entlastet zwar die Heimbewohner:innen mit langen Aufenthaltsdauern, kann aber vor allem in der ersten Zeit höhere finanzielle Belastungen der Pflegebedürftigen durch steigende Pflegesätze nicht verhindern.

In einer Expertise für die DAK Gesundheit haben Prof. Heinz Rothgang, Franziska Heinze, Thomas Kalwitzki (alle SOCIUM) und Christian Wagner (hkk, früher SOCIUM) nun berechnet, welche Effekte auf die Sozialhilfeabhängigkeit für die rund 800.000 Pflegebedürftigen in stationären Einrichtungen zu erwarten sind.

In einer Modellrechnung zeigt sich, dass die Leistungszuschläge in Verbindung mit der zu erwartenden Preisentwicklung der stationären Pflege nur zu einer kurzfristigen Entlastung der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen führt. Auch in Zukunft wird daher ein erheblicher Teil der Pflegebedürftigen in Pflegeheimen auf Sozialhilfe angewiesen sein. Nach einem einmaligen Rückgang 2022 ist bereits 2023 mit einem erneuten Anstieg der Sozialhilfequote zu rechnen. Schon ab 2024 ist zu erwarten, dass die Sozialhilfequote der stationär versorgten Pflegebedürftigen von 2019 überschritten wird, deren Höhe aber bereits als zu hoch bewertet wurde und die den Anstoß zur aktuellen Pflegereform lieferte. Die Modellwerte zeigen dabei, dass – ohne eine echte Begrenzung der Eigenanteile – dauerhaft mehr als ein Drittel der Pflegebedürftigen in stationärer Versorgung auf Sozialhilfe angewiesen sein wird – mit steigender Tendenz. Die Pflegereform ist damit nicht nachhaltig geeignet, die Probleme der finanziellen Überlastung der Pflegebedürftigen und ihrer Familien zu lösen. Zudem entstehen in der Modellrechnung für die Pflegeversicherung reformbedingte Mehrkosten, die für 2022 um 1,1 Milliarden Euro und 2025 um 3,5 Milliarden Euro über den vom Bundesgesundheitsministerium ausgewiesenen Reformkosten liegen.

Auch für die kommende Bundesregierung bleibt daher hoher Handlungsdruck. Das Ziel einer faire Lastenverteilung zwischen Beitragszahlern, Steuerzahlern und Pflegebedürftigen wartet noch immer auf Umsetzung und sollte durch eine Umsetzung der vollständigen Begrenzung der Eigenanteile und eine entsprechende Kollektivierung der Gegenfinanzierung in der kommenden Legislaturperiode endlich ermöglicht werden.


Kontakt:
Prof. Dr. Heinz Rothgang
SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik
Mary-Somerville-Straße 3
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-58557
E-Mail: rothgang@uni-bremen.de