Stellungnahme zur Situation von sorgearbeitenden Eltern und Kindern in Zeiten von COVID19 - und darüber hinaus

Nicht neu ist jedoch, dass die Gesellschaft nicht in ausreichendem Maße Eltern bei der Erziehungs- und Sorgearbeit unterstützt, obwohl unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem auf Kinder angewiesen ist. Gäbe es keine Familien, keine Sorgearbeitenden, würde niemand ein Geschäft betreten oder eröffnen, niemand wäre Politiker*in, würde einen Impfstoff finden oder im Alter gepflegt werden. Und es ist entsprechend unser aller Job, uns dafür einzusetzen, dass Menschen diese Aufgaben auch langfristig gut und ohne Nachteile ausüben können.   

Jetzt in der Krise hatten und haben Sorgeberechtigte viele Monate keinen oder keinen umfänglichen zuverlässigen Zugang zu externer Betreuung, Versorgung und Bildung der Kinder. Weder durch Kitas und Schulen, noch durch Großeltern und während des Lockdowns auch nicht durch Andere. Da es keine Strategie dafür gab und noch immer nicht gibt, Eltern hier ausreichend zu unterstützen, werden nicht nur die Kosten für die Sorgearbeitenden (und die Kinder) noch größer. Auch, dass es keine ausreichend transparente Kommunikation über Maßnahmen, ihr Für und Wider, gibt und stattdessen Debatten über viele andere Gesellschaftsbereiche deutlich ausführlicher und zielführender verlaufen, ist hier ein Problem. Das Vertrauen in Politik und Gesellschaft leidet sehr.

Wissenschaftliche Studien zeigen, dass die Lasten der Sorgearbeit für Frauen - Mütter-  groß ausfallen und sie häufig von ökonomischer Abhängigkeit und Altersarmut bedroht sind. Der Bremen Fond mit seiner expliziten Gender-Komponente ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Aber auch hier konzentriert sich die Gleichstellung bisher darauf, Frauen in den Arbeitsmarkt zu bekommen. Dieses Ziel vernachlässigt die Frage danach, wie wir die Kosten der Sorgearbeit stärker unter allen gesellschaftlichen Akteur*innen aufteilen.

Vereinbarkeit ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Ohne Sorgearbeit bricht unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem zusammen. Familien wurden vor der Krise und erst Recht im Laufe der Krise unzureichend unterstützt und auch aktuell sind wir weit davon entfernt uns tragfähigen Konzepten gegenüberzusehen.

Offene Probleme aktuell und bei weiteren Schließungen:

  1. Das Virus ist nicht weg. Es ist für Eltern keine Perspektive erkennbar, wie sie mit weiteren Betreuungs- und Bildungsengpässen umgehen können (Personalnot, vermehrte Krankheitstage der Kinder, erneute Schließungen durch Infektionsfälle in der Einrichtungen oder bei einer “zweiten Welle”). 
  2. Es gibt weiter keinen Regelbetrieb in den Betreuungseinrichtungen. Auf diesen Regelbetrieb haben sich die Eltern verlassen und ihre Erwerbstätigkeit darauf abgestimmt. Insbesondere für Alleinerziehende ist die Situation untragbar.
  3. Für Familien mit Mitgliedern aus der Risikogruppe, für die das Risiko einer externen Betreuung zu hoch ist, gibt es bisher keine alternativen Lösungen.
  4. Die pädagogische Arbeit wird durch die Hygienemaßnahmen beeinträchtigt (zum Beispiel die Erziehungspartnerschaft zwischen Erzieher*innen und Eltern). Insbesondere Kinder aus bildungsfernen Haushalten leiden langfristig unter dem Wegfall von Präsenzlernen in Krippen, Kindergärten und Schulen.
  5. Hohe Belastungen in den Familien gehen auf Kosten der Kinder (z. B. Vernachlässigung und Gewalt in Familien).
  6. Der Lohnersatz bei fehlender Betreuung ist als Instrument der finanziellen Kompensation und Erwerbsabsicherung unzureichend und für viele Familien nicht nutzbar.
  7. Es gibt keine ausreichenden Maßnahmen, um die Langzeitfolgen, die aus der zusätzlich geleisteten Sorgearbeit entstehen, aufzufangen.
  8. Unzureichende Kommunikation. Familien wird nicht ausreichend vermittelt, dass die Politik diese Probleme als gesamtgesellschaftliche Aufgaben wahrnimmt und in diesem Sinne an Lösungen arbeitet.


Wir fordern tragfähige Konzepte zum Umgang mit bestehenden und kommenden Problemlagen von Kindern und sorgearbeitenden Eltern.

Insbesondere fordern wir ein Gremium, das sich dieser Probleme annimmt und das auf Grundlage der bestehenden kurz-, mittel-, und langfristigen Lösungsvorschläge transparent tragfähige Konzepte für die Kinder und sorgearbeitenden Eltern im Land Bremen entwirft.

Dieses Gremium muss neben der Erarbeitung weiterer Lösungsansätze und Strategien bspw. dazu Stellung nehmen, inwiefern die bereits wissenschaftlich und medial vorliegenden Lösungsansätze diskutiert wurden und wer sich um eine zügige Umsetzung der Maßnahmen kümmert. Diese Lösungsansätze sind beispielsweise Ausweitung der Lohnfortzahlung, ein Corona-Elterngeld, umfangreiche Teststrategien, mehr Ressourcen für schlechter gestellte Familien, kreative Schaffung personeller und räumlicher Ressourcen für Betreuungs- und Bildungseinrichtungen (inkl. Außenflächennutzung), Bezuschussung haushaltsnaher Dienstleistungen, Berücksichtigung in der Alterssicherung.

Ziel muss sein, dass politische Maßnahmen, unter anderem auch im Rahmen des „Bremen-Fonds zur Bewältigung der Corona Folgen“, anerkennen, dass sorgearbeitende Eltern und Kinder die Basis von Wirtschaft und Gesellschaft sind. Die Bereiche Pädagogik, Familienforschung, Kinderpsychologie, Gleichstellung der Geschlechter bzw. Gleichstellung von Menschen mit und ohne Sorgeaufgaben und gesellschaftlicher Zusammenhalt sind durch Expert*innenstimmen sowie Vertreter*innen der Bildungseinrichtungen und der Elternverbände zu repräsentieren. Auch beim Hinzuziehen weiterer gutachterlicher Unterstützung hat der Senat auf eine entsprechende Repräsentanz dieser und weiterer Bereiche zu achten, damit nicht Stimmen aus der Wirtschaft überwiegen und einmal mehr vergessen wird, dass es die (gewerkschaftlich nicht organisierte) Sorgearbeit der Familien ist, auf die die Wirtschaft angewiesen ist.  

Wir fordern zudem, dass Landespolitiker*innen diese Haltung ebenfalls öffentlich demonstrieren. Auch und insbesondere im transparenten Dialog mit der Bundespolitik. Und sich weit über die Krise hinaus offensiv für eine faire Verteilung und Aufwertung von privater Sorgearbeit einsetzen.  

Das Problem ist nicht, dass es keine Lösungen gibt, sondern, dass sich niemand mit angemessenen Ressourcen transparent um Lösungen bemüht.

Eben dies ist jedoch im Sinne eines nachhaltigen und krisensicheren Neustarts notwendig.

Artikel im Weser-Kurier (11. Juli 2020)

Bericht bei Buten und Binnen (11. Juli 2020)

Dr. Sonja Bastin, Familien- und Lebenslaufsoziologin
Dr. Katharina Lutz, Familien- und Lebenslaufsoziologin


Die Stellungnahme entstand nach Vorgesprächen mit der Zentralelternvertretung Bremen (ZEV), der Landesbeauftragten für Frauen Bettina Wilhelm und der bundesweit aktiven Elterninitiative “Familien in der Krise”.


Kontakt:
Dr. Sonja Bastin