Von li.n.r.: Joachim Gauck (Bundespräsident), Peter Masuch (Präsident Bundessozialgericht) (© Andreas Fischer, Kassel).Von li.n.r.: Joachim Gauck (Bundespräsident), Peter Masuch (Präsident Bundessozialgericht) (© Andreas Fischer, Kassel).
Bundespräsident Gauck nimmt Sozialpolitik-Denkschrift entgegen und will die Diskussion in Berlin fortführen.

Unter Beteiligung des Sonderforschungsbereichs "Staatlichkeit im Wandel" (Sfb 597) und des Zentrums für Sozialpolitik (ZeS) wurde am Donnerstag, dem 11. September 2014 Bundespräsident Joachim Gauck am Sitz des Bundessozialgerichts in Kassel die Denkschrift 60 Jahre Bundesozialgericht (BSG) zum Thema "Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats" (Erich Schmidt Verlag 2014) übergeben.

Die Denkschrift umfasst 823 Seiten, davon gelten mehr als 300 Seiten den heutigen und künftigen Herausforderungen, das Übrige zielt auf eine solide Bestandsaufnahme. In einem so "pfadabhängigen" Staatssektor sagt der Blick zurück viel über den Weg nach vorn. Der Bundespräsident machte in seiner Ansprache auf der Grundlage der Denkschrift eine Gegeneinladung zur vertiefenden Diskussion dieser Thematik und zur Lage der Sozialpolitik in den einschlägigen Universitätsdisziplinen (s. dazu das Vorwort der Denkschrift, S. VI-IX) in seinem Amtssitz in Berlin. Eine "Sozialpolitik"!, die sich "im Blindflug" entwickelt, weil die Universitäten ihr immer weniger Aufmerksamkeit widmen, schien ihm keine sinnvolle Zukunftsperspektive zu sein.

Eine Festschrift für ein Gericht als Denkschrift ist schon als solches ein unübliches Format: Hier wird nicht ein Gericht gefeiert, sondern das Gericht lenkt den Blick anlässlich seines Jubiläums auf den Zustand und die Zukunft des deutschen Sozialstaats, also seinen "Arbeitsgegenstand", also den Sozialstaat bei dem ja viel in Bewegung ist und der mit ca. 50% der Staatsausgaben und bald einem Drittel des Bruttosozialprodukts auch alles andere als eine Nebensache in Deutschland darstellt. Und das Gericht greift dazu weit über die Rechtswissenschaften hinaus (= 9 Aufsätze) und hat Historiker, Philosophen, Politologen, Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler zu dieser gemeinsamen Bilanz gebeten, die 38 Kapitel umfasst. Nun ist dies zwar ein Thema in der gesamten OECD-Welt, denn überall ist der Sozialstaat die "bessere Hälfte" des Staats, aber eine so profilierte Sozialgerichtsbarkeit findet sich nur in Deutschland. Erst die Fusion von Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat ergibt den deutschen Sozialstaat. Dieser Sozialstaat und die Sozialgerichtsbarkeit sind "eineige Zwillinge" (Vorwort, S. X f.). Vielleicht kam es deshalb gerade der deutschen Sozialgerichtsbarkeit zu, diesen Blick auf ihr "umzu" in dieser Zeit so umfassend zu lenken.

Die Bremer Beteiligung zeigt sich in vielen Autoren aus der Universität Bremen (Olaf Groh-Samberg, Friedhelm Hase, Stephan Leibfried, Steffen Mau, Frank Nullmeier und Herbert Obinger), in vielen früheren Bremern (Stefan Gosepath, Florian Rödl, Ilona Ostner, Manfred G. Schmidt und Peter Starke) oder in mit Bremen eng verbundenen Autoren (u.a. Franz-Xaver Kaufmann, ZeS Gründungsbeirats-Vorsitzender 1990-1998). Franz-Xaver Kaufmann schrieb das Kapitel "Zusammenschau und Ausblick" zu dem Band, das als Ein- wie Ausstieg lohnt (S. 777-811). Die Bremer Beteiligung wird sich auch bei dem Folgeband über "Richterliche Wissensgewinnung und Wissenschaft: BSG-Entscheidungsfindung und die Sozialstaatsforschung" zeigen, der aus einer Konferenz zu acht Themenfeldern entstehen wird, die am BSG schon vorab am 9. und 10. September stattfand. Hier tauschten BSG-Sozialrichter und die breite Palette von Sozialpolitikdisziplinen systematisch ihre Erfahrungen über Rechtsprechungsprobleme in den Feldern Pflege, Alterssicherung, Gesundheit, Arbeitsmarktpolitik, Armut, Unterhaltsverband, Behinderung und Finanzierung der Sozialversicherung aus. Das geschah unter reger Beteiligung der Sozialrichter aus den unteren Instanzen, also der Landessozialgerichte und Sozialgerichte, denn all das war als 46. Richterwoche des BSG organisiert. An der Konferenz waren und an dem Band 2 sind aus Bremen z.B. beteiligt Stefan Gress, Johannes Huinink, Heinz Rothgang und Winfried Schmähl.

Zwei der Herausgeber dieser beiden Bände haben Bremer Wurzeln: Stephan Leibfried, Sprecher des Sfb "Staatlichkeit im Wandel" und Koabteilungsleiter im ZeS, ist in Bremen seit 1974; und Peter Masuch, Präsident des Bundessozialgerichts, ist ein Absolvent der Bremer einphasigen Juristenausbildung des 1972er Jahrgangs (S. Lichtspuren, S. 132 f.) und war dort Teilnehmer des Abschlußprojekts "Sozialpolitik in den Grenzen des Steuerstaats", und war dann in Bremen in den 1980er und 1990er Jahren auch Richter am Sozial- und Landessozialgericht.

Download:
Rede von Ulrich Becker & Stephan Leibfried anläßlich der Übergabe der BSG-Denkschrift an den Bundespräsidenten am 11. September 2014 beim BSG Kassel sowie Bilder zur Veranstaltung.

Mehr Informationen:
Erich Schmidt Verlag: Inhaltsverzeichnis und weitere Informationen zur Veröffentlichung.

Bundespräsident Joachim Gauck: 60 Jahre Bundessozialgericht, Rede vom 11. September 2014, Bundessozialgericht Kassel


Kontakt:
Prof. Dr. Stephan Leibfried (verstorben)