BARMER-Pflegereport 2023 am 05.12.2023 in Berlin vorgestellt

Der jährlich veröffentlichte BARMER-Pflegebericht bewertet die aktuelle Pflegepolitik und erfasst die Situation der Pflege. Für den Bericht werteten Prof. Heinz Rothgang und Dr. Rolf Müller (beide SOCIUM) Daten aus der Pflege- und Kassenstatistik sowie der BARMER umfassend aus. Darüber hinaus setzen die Autoren einen thematischen Schwerpunkt, welcher in diesem Jahr auf der Situation Pflegebedürftiger im Krankenhaus liegt.

Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag werden nicht umgesetzt

Die zentralen Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung und zur Finanzierung der Pflege wurden bisher nicht umgesetzt. Dies betrifft unter anderem die Steuerfinanzierung versicherungsfremder Leistungen wie die Rentenbeiträge für pflegende Angehörige, die Herausnahme der Ausbildungskosten aus den Eigenanteilen in der Heimpflege und die Umfinanzierung der medizinischen Behandlungspflege in Heimen. Angesichts der derzeitigen Finanzsituation und deren Bewertung durch die Bundesregierung ist es unwahrscheinlich, dass diese Vorhaben in der aktuellen Legislaturperiode noch verwirklicht werden.

Eine Tariftreueregelung soll den Pflegeberuf attraktiver machen. Nach dieser müssen Pflegeeinrichtungen ohne Tarifvertrag einen solchen einführen, oder ein regional übliches Entlohnungsniveau für Pflegekräfte sicherstellen. Der überwiegende Teil der bislang nicht gebundenen Einrichtungen hat sich für die zweite Option entschieden. Es wurden daher nicht deutlich mehr Tarifverträge eingeführt, die Entgelte stiegen in vielen Einrichtungen aber um bis zu 30 Prozent, was sich wiederum in den Preisen für Pflegeleistungen niederschlägt. Das zentrale Gesetzesvorhaben dieser Legislaturperiode im Bereich der Langzeitpflege ist das Pflegeunterstützungs- und Entlastungsgesetz. Die darin vorgenommenen Anpassungen sind allerdings unzureichend: in der häuslichen Pflege erfährt das Pflegegeld inflationsbedingt weiterhin einen Realwertverlust, während Eigenanteile in der stationären Pflege steigen. Das Ziel, diese Eigenanteile zu begrenzen wird damit verfehlt.  

Pflegebedürftige machen rund ein Viertel der Patient:innen in Krankenhäusern aus

Mit zunehmendem Alter werden nicht nur eine Pflegebedürftigkeit, sondern auch ein Krankenhausaufenthalt wahrscheinlicher und oft wird erst durch eine Krankenhausaufnahme eine Pflegebedürftigkeit festgestellt. Die Zahl der Personen, die Monat einer Krankenhausaufnahme pflegebedürftig geworden sind, lag in den Jahren 2017 bis 2022 jährlich relativ konstant zwischen 260.000 und 276.000. Die Zahl der Krankenhausfälle von bereits Pflegebedürftigen ist in diesem Zeitraum hingegen deutlich gestiegen – von 2,71 Millionen auf 3,45 Millionen. Insgesamt machen Pflegebedürftige rund ein Viertel der Patient:innen in Krankenhäusern aus.

Jährlich über eine Million potenziell vermeidbare Krankenhausfälle durch Pflegebedürftige

Über eine Million Krankenhausaufenthalte von Pflegebedürftigen können als potentiell vermeidbar angesehen werden. Dazu gehören insbesondere Krankenhausaufnahmen wegen Diabetes mellitus, Typ 2, Volumenmangel, Herzinsuffizienz, sonstige chronische obstruktive Lungenkrankheit und sonstige Krankheiten des Harnsystems. Neben der pflegerischen und medizinischen Versorgung könnten hier auch die Mitwirkung der Pflegebedürftigen sowie das individuelle Gesundheitsverhalten eine Rolle spielen.

Plötzlich Pflegebedürftig – was kommt nach dem Krankenhaus?

Wenn ein Pflegebedarf im Krankenhaus festgestellt wird, ist dieser häufig mit relativ plötzlich auftretenden, schwerwiegenden Erkrankungen wie Krebs oder Schlaganfall verbunden und die Pflegegrade sind dann meist höher als in anderen Situationen, in denen eine Pflegebedürftigkeit festgestellt wird. An den Krankenhausaufenthalt schließt in diesen Fällen die Frage nach der weiteren Versorgung an, auf die das häusliche Umfeld oft nicht vorbereitet ist. Mehr als die Hälfte (53,5 Prozent) der Personen, bei denen im Zuge ihres Krankenhausaufenthaltes eine Pflegebedürftigkeit festgestellt wird, wird nach der Entlassung aus dem Krankenhaus ausschließlich informell gepflegt – d.h. ohne Leistungen von ambulanten Pflegediensten, Versorgung in Pflegeeinrichtungen. 39,8 Prozent beziehen Pflegesachleistung und 6,4 Prozent ziehen in Pflegeheime. Zudem nutzt jede siebte Person (14,2 Prozent) Kurzzeitpflege. Von diesen wird einen Monat später die Hälfte noch vollstationär versorgt. Die Kurzzeitpflege nimmt hier eine Überbrückungsfunktion ein, bis die adäquate Versorgung organisiert ist.

Veränderungen auch für schon Pflegebedürftige

Für Menschen, die bereits pflegebedürftig sind, ist nicht nur die Wahrscheinlichkeit eines Krankenhausaufenthaltes überhaut, sondern auch die eines potenziell vermeidbaren höher als für Menschen ohne Pflegebedarf. Vielfach erhöht sich nach dem Krankenhausaufenthalt der Pflegegrad. Dadurch können Angehörige auch hier vor der Frage nach einem veränderten Versorgungsbedarf stehen. Schon im Monat der Krankenhausentlassung nehmen 5,6 Prozent der bislang informell versorgten Pflegebedürftigen einen Pflegedienst in Anspruch und 2,7 Prozent ziehen in ein Pflegeheim. Von den Pflegebedürftigen, die bislang durch Pflegedienste versorgt werden, ziehen sogar 8,1 Prozent schon im Entlassungsmonat in ein Pflegeheim um. Von den bisherigen Nutzern der Pflegedienste nutzen 15,7 Prozent direkt nach der Entlassung auch die Kurzzeitpflege, welche auch bei diesen Pflegebedürftigen sehr häufig als Überbrückung in die vollstationäre Dauerpflege genutzt wird.

Krankenhausaufenthalte sind für Pflegebedürftige deutlich länger

Notwendige Suchprozesse können die Entlassungen aus dem Krankenhaus verzögern, dabei liegt es im Interesse der Krankenhäuser, Krankenkassen und Pflegebedürftigen den Krankenhausaufenthalt so kurz wie möglich zu halten. Ein Entlassungsmanagement der Krankenhäuser soll zwar bei dem Übergang helfen, scheitert aber häufig schlichtweg an zu wenigen Plätzen in den Pflegeeinrichtungen und beginnt teilweise zu spät und zu unkoordiniert. Patient:innen mit einem neu festgestellten Pflegebedarf sind im Durchschnitt dreieinhalb Tage und durch ambulante Pflegedienste versorgte Pflegebedürftige sind im Durchschnitt bis zu zweieinhalb Tage länger im Krankenhaus als nicht pflegebedürftige Personen. Dies kann sowohl an einem schwereren Krankheitsverlauf als auch an einer notwenigen Überbrückungszeit liegen. Da eine anschließende Nutzung der Kurzzeitpflege die Krankenhausdauer durchschnittlich um weitere sechs Tage verlängert, deutet vieles auf einen längeren Suchprozess für die adäquate pflegerische Versorgung hin.

 

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BARMER Pflegereport 2023

Statement von Prof. Rothgang anlässlich der Pressekonferenz

Folienvortrag von Prof. Rothgang anlässlich der Pressekonferenz


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Dr. rer. pol. Rolf Müller
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Autorenteam des SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen erstellt Pflegereport 2022 im Auftrag der BARMER

Am 29.11.2022 wurde in Berlin der diesjährige BARMER Pflegereport vorgestellt. Neben einer Bewertung der Pflegepolitik des letzten Jahres und einem allgemeinen Berichtsteil analysiert der diesjährige Pflegereport in seinem Schwerpunktkapitel die Auswirkungen von COVID-19 auf den Heimsektor. Dabei werden sowohl die Effekte auf die Heimbewohnerinnen und -bewohner als auch auf die Pflegeheime selbst und – vermittelt über die finanziellen Effekte – die Pflegeversicherung untersucht.

Ankündigungen des Koalitionsvertrags wurden bislang noch nicht umgesetzt

Vor gut einem Jahr wurde der Koalitionsvertrag abgeschlossen, der eine Reihe von Maßnahmen zur Verbesserung der Situation in der Langzeitpflege vorsieht. Tatsächlich ist noch keine dieser Maßnahmen umgesetzt worden. Da es sich bei diesen im Koalitionsvertrag genannten Vorhaben um dringende Weiterentwicklungsbedarfe handelt, kann nur gehofft werden, dass deren Umsetzung im nächsten Jahr schnellsten begonnen wird. Ansonsten wird die Zeit bis zum Ende der Legislaturperiode für die notwendige große Pflegereform nicht mehr ausreichen.

Hauptleidtragende der Pandemie sind die Pflegebedürftigen in Pflegeheimen

Pflegeheimbewohnende sind direkt und indirekt von der Pandemie betroffen.

Um eine Ausbreitung der Infektion zu begrenzen, haben Pflegeheime in der ersten Welle drastische Kontaktsperren für Besucher, Ehrenamtliche, aber teilweise auch Ärzte, Therapeuten, Fußpflege durchgesetzt, die nicht nur zu einer eingeschränkten medizinischen Versorgung geführt, sondern nicht zuletzt durch Einsamkeitserleben insbesondere negative Effekte auf die psychische Gesundheit der Heimbewohnenden gehabt haben.

Trotz der Kontaktsperren war der Anteil der an COVID-19 Erkrankten in der ersten und zweiten Welle bei Heimbewohnerinnen und -bewohnern nach Hochrechnungen mit den BARMER-Daten 7-8-mal so hoch wie in der Gesamtbevölkerung. Da es sich bei den Heimbewohnenden zudem um vulnerable Gruppen handelt, hat dies dazu geführt, dass mehr als die Hälfte der in der ersten und zweiten Welle mit COVID-19 Verstorbenen Heimbewohnende waren. Bezogen auf die Jahre 2020 und 2021 liegt der kumulierte Anteil der Heimbewohnenden an den mit COVID-19 Gestorbenen bei 45 %, der Anteil aller Pflegebedürftigen bei 75 %. Die Todesfälle mit COVID-19 haben zu einer entsprechenden Übersterblichkeit geführt. Im Vergleich zu den Jahre 2017 bis 2019 zeigt sich unter den Heimbewohnenden eine Übersterblichkeit von mehr als 150.000 Personen.

Auch am Ende des Betrachtungszeitraums ist die Betroffenheit der Heimbewohnenden immer noch sehr hoch. Vorbereitungen auf neue Varianten des Virus und auf weitere Wellen sind daher angezeigt. Um die negativen indirekten Effekte zu verhindern, sollte dabei aber soweit wie möglich auf Maßnahmen zur Kontaktreduktion verzichtet werden.

Auch Pflegekräfte im Pflegeheim sind in besonderem Maße betroffen

Die Kontaktsperren im Pflegeheim, die notwendigen Hygienemaßnahmen, einschließlich der Verpflichtung für das Personal, Masken zu tragen, sowie der pandemiebedingte Personalausfall haben die Arbeit der Pflegekräfte sehr erschwert. Emotionsarbeit, die sonst von Angehörigen geleistet wurde, musste unter erschwerten Bedingungen übernommen werden. Da Schutzausrüstungen zunächst nicht ausreichend zur Verfügung standen und das Personal im Pflegeheim aufgrund der körpernahen Arbeit nur eingeschränkt Abstand halten kann, war auch das Pflegepersonal im Pflegeheim besonders von der Pandemie betroffen.

Entsprechend lagen die Arbeitsunfähigkeitsquoten für Pflegekräfte im Pflegeheim in den beiden ersten Wellen etwa fünfmal so hoch wie bei den sonstigen Beschäftigten in sonstigen Wirtschaftszweigen. In der dritten und vierten Welle haben sich die AU-Quoten dann allerdings wieder angeglichen.

Um für weitere Covid-19-Wellen und weitere Pandemien gewappnet zu sein, ist es entscheidend die Zahl der Beschäftigten – im Sinne des neuen Personalbemessungsverfahrens – zügig zu erhöhen. Nur so kann sichergestellt werden, dass eine Abwärtsspirale aus Überforderung der Mitarbeitenden und erhöhten Arbeitsunfähigkeitszeiten entsteht.

Nach starken Einbrüchen in den ersten beiden Wellen normalisiert sich die Inanspruchnahme formeller Pflegeleistungen wieder

Pflegebedürftige und deren Angehörigen haben in den beiden ersten Wellen aus Angst vor einer Infektion zum Teil auf die Nutzung formellen Pflegeleistungen verzichtet. Zudem mussten Einrichtungen ihr Angebot insbesondere aufgrund von Personalmangel zum Teil zurückfahren. Starke Einbrüche von rund 50 % gab es in der ersten Welle bei der Inanspruchnahme von Kurzzeitpflege. In der vollstationären Dauerpflege zeigten sich Effekte vor allem in einem verringerten Wechsel von häuslicher in stationäre Pflege, der in der ersten Welle um rund 40 % zurückgegangen ist. Da Heimbewohnende in der Regel keine Möglichkeit zur Rückkehr in eigene Häuslichkeit haben, war der Effekt für den Bestand der Heimbewohnenden entsprechend geringer.

Die Möglichkeit der Impfung dürfte entscheidend dazu beigetragen haben, dass sich die Zahl der Neueinzüge in vollstationäre Pflegeeinrichtungen und die Nutzung teilstationärer Pflege im Sommer 2021 wieder das Niveau vor der Pandemie erreicht hat. Allerdings deutet die rückläufige Nutzung zum Dezember 2021 darauf hin, dass neue Wellen wieder zu verringerter Inanspruchnahme führen können.

Die Sozialversicherung wird erneut zur Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben missbraucht

Im Koalitionsvertrag wurde vereinbart, die pandemiebedingten Zusatzkosten der Pflegeversicherung aus Steuermitteln zu finanzieren. Tatsächlich stehen den bis zum Ende des 1. Quartals 2022 aufgelaufenen Zusatzkosten von 9,2 Milliarden Euro für den Rettungsschirm für Pflegeeinrichtungen, die von der Testverordnung vorgegebenen PoC-Antigen-Tests und die Corona-Pflegeprämie bis zum Jahresende 2022 lediglich steuerfinanzierte Bundeszuschüsse in Höhe von 4,0 Milliarden Euro gegenüber. Ein Betrag von 5,2 Milliarden Euro verbleibt damit bei der Pflegeversicherung. Dabei sind die coronabedingten Mehrausgaben des 2. bis 4. Quartals 2022 noch gar nicht berücksichtigt. Die Ankündigung des Koalitionsvertrags wird somit bislang nicht eingehalten. Vielmehr werden erneut gesamtgesellschaftliche Aufgaben beitragsfinanziert.

Aufgrund weiterer Finanzrisiken ist eine Finanzreform bereits Anfang des Jahres unvermeidlich. Es ist zu wünschen, dass im Rahmen dieser Reform auf die Verpflichtung zur Rückzahlung der genannten Kredite verzichtet wird und die coronabedingten Kosten vollständig steuerfinanziert werden – wie im Koalitionsvertrag angekündigt.

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BARMER Pflegereport 2022

Statement von Prof. Rothgang anlässlich der Pressekonferenz

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Autorenteam des SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen erstellt Pflegereport 2021 im Auftrag der BARMER

Heute wurde in Berlin der diesjährige BARMER Pflegereport vorgestellt. Darin wurden insbesondere die Wirkungen der letzten Pflegereformen aufgezeigt und daraus Schlüsse für die zukünftige Entwicklung der Anzahl der Pflegebedürftigen gezogen. Aus der Anzahl und Zusammensetzung der Pflegebedürftigen wird sich entsprechend ein Personal- und Finanzierungsbedarf entwickeln. Im Jahr 2025 und in den Folgejahren wird die Anzahl der Pflegebedürftigen um 1.000.000 höher liegen als mit konventionellen Methoden vorausgesagt. Im Report wurde die aktuelle Pflegepolitik hinsichtlich der Problematik des Personalbedarfs diskutiert - insbesondere auch vor dem Hintergrund der wissenschaftlich erfassten Bedarfszahlen in der vollstationären Versorgung. Die Autoren Professor Dr. Heinz Rothgang und Dr. Rolf Müller liefern weiterhin vertiefende Untersuchungen zu Fallzahlen, Inzidenzen, Prävalenzen und Pflegeverläufen. Wesentliche Datengrundlagen sind die Pflegestatistik des Statistischen Bundesamts und die Routinedaten der BARMER.

Stark steigende Anzahl an Pflegebedürftigen

Mit der schrittweisen Berücksichtigung der kognitiven Einschränkungen für den Leistungsanspruch gegenüber der Pflegeversicherung wurde der Kreis der Leistungsberechtigten seit den 2010er Jahren zunehmend ausgeweitet. Zwischen 2017 und 2019 ist nach den Daten der Pflegestatistik die Anzahl der Pflegebedürftigen um 713.000 gestiegen. Der Anstieg beruhte mit 145.000 Fällen auf demografischen Entwicklungen und mit 568.000 Fällen auf anderen Effekten, wie sie durch die Einführung der Pflegegrade entstanden sind. Vorausberechnungen zur künftigen Anzahl der Pflegebedürftigen beruhten meistens auf der Fortschreibung aktueller Prävalenzen. Projektionen dieser Art haben durchweg die zukünftige Anzahl an Pflegebedürftigen unterschätzt. Aktuelle Berechnungen, die auf den Pflegeprävalenzen von 2019 beruhen, unterschätzen schon die Anzahl der Pflegebedürftigen des Jahres 2020 um über 6 Prozent. Die Autoren des Pflegereports gehen davon aus, dass es in den nächsten Jahren keine weitere Ausweitung des leistungsberechtigten Personenkreises durch weitere gesetzgeberische Maßnahmen geben wird, aber dass der Einführungseffekt der letzten Reformen nur langsam bis zum Jahr 2025 abklingt. In der Summe ergeben sich dann ab 2025 rund 1.000.000 mehr Pflegebedürftige als mit der konventionellen Schätzung. Die neueren Schätzungen weisen vor allem mehr Pflegebedürftige mit den Pflegegraden 1 bis 3 und mit Bezug von Pflegegeld aus.

Bedarf an Pflegekräften um 3 Prozent höher als konventionell geschätzt

Trotz der Vielzahl an Pflegebedürftigen mit geringen Pflegegraden wird es auch im stationären Sektor eine höhere Inanspruchnahme geben als mit konventionellen Methoden vorausberechnet. Es werden im Vergleich 3 Prozent mehr Pflegekräfte benötigt als mit konventionellen Methoden berechnet. Insgesamt wird für das Jahr 2030 ein Personalbedarf von 510.000 Pflegefachkräften, 196.000 Pflegehilfskräften mit 1- bis 2-jähriger Ausbildung und 386.000 Pflegehilfskräften ohne Ausbildung vorhergesagt. Das sind 81.000 Pflegefachkräfte, 87.000 Pflegehilfskräfte mit Ausbildung und 14.000 Pflegekräfte ohne Ausbildung mehr als durch die Pflegestatistik für das Jahr 2019 ausgewiesen. Daraus ergibt sich für 2030 im Vergleich zu 2019 ein Mehrbedarf von 182.000 Pflegekräften. Dabei ist noch anzumerken, dass die gesetzlich festgeschriebenen Zahlen zur vollstationären Personalbemessung und die vorzufindenden Verhältniszahlen im ambulanten und teilstationären Versorgung vielfach aktuell schon nicht ausreichend sind.

Leistungsausgaben der Pflegeversicherung im Jahr 2030 bei 59 Millionen Euro in heutigen Preisen

Unter der Annahme konstanter Prävalenzen steigen die Leistungsausgaben in heutigen Preisen in der Modellrechnung bis zum Jahr 2030 auf 53,0 Milliarden Euro und bis zum Jahr 2050 auf 70,6 Milliarden Euro an. Da die Annahme einer konstanten Prävalenz auf dem Niveau von 2019 aber empirisch schon für 2020 widerlegt ist, muss von einem Auslaufen der Einführungseffekte ausgegangen werden. Unter diesen Bedingungen wachsen die Leistungsausgaben in heutigen Preisen für die Pflegeversicherung bis zum Jahr 2030 auf 59,0 Milliarden Euro und bis zum Jahr 2050 auf 77,4 Milliarden Euro an. Die neuen Berechnungen decken somit schon für das Jahr 2030 eine Finanzierungslücke von weiteren 6 Milliarden Euro auf.

Benötigt wird eine Ausbildungsoffensive

Das Hauptproblem bleibt die Rekrutierung des Pflegepersonals. Den Mehrbedarf zu befriedigen, ist die zentrale Herausforderung der Pflegepolitik. Dazu muss das Ausbildungsangebot erhöht werden. Zudem muss der Beruf durch bessere Arbeitsbedingungen und höhere Entlohnung attraktiver gemacht werden. Dadurch kann es gelingen, Pflegekräfte zu einem längeren Verbleib im Beruf zu bewegen und potenzielle Auszubildende für den Beruf zu gewinnen.

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BARMER Pflegereport 2021
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Autorenteam des SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen erstellt Pflegereport 2020 im Auftrag der BARMER

Heute wurde im Tagungszentrum im Haus der Bundespressekonferenz der diesjährige BARMER Pflegereport vorgestellt. Darin wurden insbesondere die Belastungssituationen und die Gesundheitszustände von Pflegekräften analysiert. Durch überdurchschnittliche Krankheitslast ging im Jahr 2017 die Arbeitszeit von 26.000 Pflegekräften verloren. Im Report wurde die aktuelle Pflegepolitik hinsichtlich der Problematik des Pflegenotstands diskutiert - insbesondere auch vor dem Hintergrund zusätzlicher Belastungen durch die Corona-Pandemie. Die Autoren Professor Dr. Heinz Rothgang, Dr. Rolf Müller und Benedikt Preuß liefern weiterhin vertiefende Untersuchungen zu Fallzahlen, Inzidenzen, Prävalenzen und Pflegeverläufen. Wesentliche Datengrundlagen sind die Pflegestatistik des Statistischen Bundesamts und die Routinedaten der BARMER.

Vielfach erhöhte Belastungen in der Pflege

Für Pflegekräfte wurden in vielen Bereichen erhöhte Belastungen festgestellt. Rund 92 Prozent der Altenpflegefachkräfte arbeiten häufig im Stehen (im Vergleich zu 47 Prozent in sonstigen Berufen) Häufiges Heben und Tragen von schweren Lasten wird von 76 Prozent der Altenpflegefachkräfte berichtet (gegenüber 15 Prozent in sonstigen Berufen). Deutlich häufiger ist zudem das Arbeiten in Zwangshaltungen (45 Prozent zu 11 Prozent). Von den Altenpflegefachkräften geben 52 Prozent an, häufig Vorschriften bezüglich der Mindestleistung oder der Zeit für bestimmte Arbeiten zu haben (im Vergleich zu 27 Prozent in den sonstigen Berufen). Häufig unter Termin- und Leistungsdruck stehen 63 Prozent (Vergleichsgruppe: 50 Prozent). Dass sie häufig sehr schnell arbeiten zu müssen, berichten 53 Prozent im Vergleich zu 39 Prozent der sonstigen Beschäftigten und 31 Prozent der Altenpflegefachkräfte geben an, häufig bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit zu gehen (16 Prozent bei den sonstigen Berufen). All dies wird von den Pflegekräften auch häufiger als belastend empfunden als von den Beschäftigten in sonstigen Berufen.

Schlechterer Gesundheitszustand bei Pflegekräften

Korrespondierend zur Arbeitsbelastung stellen die Autoren des Reports für Pflegekräfte einen insgesamt schlechteren Gesundheitszustand fest. Dieser Zusammenhang zeigt sich bei allen angewandten Messverfahren. Sowohl aus Befragungsergebnissen als auch bei den Analysen der ambulanten Diagnosen, der Fehlzeiten, der Arzneimittelverordnungen und der Krankenhausaufenthalte sind Pflegekräfte bei Erkrankungen des Bewegungsapparates und bei den psychischen und Verhaltensstörungen in höherem Ausmaß betroffen. Obwohl die Belastungen von Altenpflegefachkräften und Altenpflegehilfskräften sich in vielen Bereichen sehr ähneln, ist der Gesundheitszustand der Hilfskräfte schlechter als der der Fachkräfte.

Sehr viel Pflegepersonal fällt krankheitsbedingt aus.

Für Altenpflegefachkräfte wurde ein Krankenstand von 7,2 Prozent ermittelt. Bei den entsprechenden Hilfskräften lag dieser sogar bei 8,7 Prozent. In den sonstigen Berufen wurde dagegen ein Krankenstand von 5,0 Prozent verzeichnet. Aus der Multiplikation der Differenz im Krankenstand mit der Zahl der beschäftigten Pflegekräfte resultiert die (Arbeitszeit, die überdurchschnittlich durch krankheitsbedingte Fehlzeiten am Arbeitsplatz verloren ging). Diese überdurchschnittlich verlorengegangene Arbeitszeit beläuft sich auf das Ausmaß der Arbeitszeit von gut 24.000 Pflegekräften im Jahr 2017.
Von 1.000 Altenpflegefachkräften gehen durchschnittlich 3,9 innerhalb eines Jahres in die Erwerbsminderungsrente, bei den Altenpflegehilfskräften sind es 6,0 von 1.000 und bei den sonstigen Berufen 3,0 von 1.000. Aus der überdurchschnittlichen Frühverrentung resultieren fast 2.000 verlorene Pflegekräfte im Jahr 2017. In der Summe von überdurchschnittlichen krankheitsbedingten Fehlzeiten und überdurchschnittlichen Eintritten in die Erwerbsminderungsrente ergibt sich das Ausmaß der Erwerbszeit von 26.000 Pflegekräften, die allein im Jahr 2017 verloren ging.

Kein Weg führt an mehr Personal vorbei.

Derzeit ist die eingesetzte Pflegepersonalmenge nicht ausreichend, um eine fachgerechte Pflege und gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal zu gewährleisten. Die resultierende Arbeitsverdichtung führt zu einer überdurchschnittlichen Belastung und zu negativen gesundheitlichen Auswirkungen. Die daraus entstehenden vermehrten Fehlzeiten und Berufsaustritte verstärken den Pflegenotstand. Dies führt für die verbleibenden Pflegekräfte wiederum zur Erhöhung der Arbeitsbelastung. „Diesen Teufelskreis gilt es zu durchbrechen“, fordern die Autoren der Studie, „wenn die Pflege dauerhaft qualitätsgesichert geleistet werden soll. Dafür braucht es mehr Personal.“

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BARMER Pflegereport 2020
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Autorenteam des SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen erstellt Pflegereport 2019 im Auftrag der BARMER

Heute wurde im Tagungszentrum im Haus der Bundespressekonferenz der diesjährige BARMER Pflegereport vorgestellt. Darin wurden insbesondere die neuen Wohn- und Pflegeformen analysiert. Zudem wurde ein Rückblick auf 25 Jahre Pflegeversicherung vorgenommen. Die Autoren Professor Dr. Heinz Rothgang und Dr. Rolf Müller liefern weiterhin vertiefende Untersuchungen zu Fallzahlen, Inzidenzen, Prävalenzen und Pflegeverläufen. Wesentliche Datengrundlagen sind die Pflegestatistik 2017 und die Routinedaten der BARMER.

Finanzielle Anreizstruktur für die Schaffung neuer Wohn- und Pflegeformen
Die maximalen Leistungen der Kranken- und Pflegeversicherung für Langzeitpflege liegen bei ambulanter Versorgung rund doppelt so hoch wie bei stationärer Versorgung. Dies ist darin begründet, dass - anders als in der stationären Versorgung - in der ambulanten Versorgung zusätzlich zu den Pflegesachleistungen und Betreuungsleistungen noch Tages- und Nachtpflege, Leistungen zu wohnumfeldverbessernden Maßnahmen, Wohngruppenzuschläge, Verhinderungspflege und Kurzzeitpflege mit der Pflegekasse abgerechnet werden können. Hinzu kommt noch die Erstattung der häuslichen Krankenpflege durch die Krankenkasse, die in der vollstationären Versorgung prinzipiell schon im Pflegesatz enthalten ist, aber in der ambulanten Versorgung separat abgerechnet wird. Hieraus resultieren Anreize für Leistungsanbieter, Pflege ambulant statt stationär anzubieten.

Organisatorische Anreizstrukturen für die Schaffung neuer Wohn- und Pflegeformen
Zudem ist die Versorgung in Pflege-Wohngemeinschaften in deutlich geringerem Maße als die Versorgung im Pflegeheim durch das Heimgesetz oder entsprechendes Landesrecht reguliert. Kontrollen, Meldepflichten, Personalvorgaben, Qualitätssicherung oder räumliche Anforderungen sind weitaus weniger verlangt. Versorgung in betreutem Wohnen ist fast gar nicht reguliert.

Beträchtliches Ausmaß an neuen Wohn- und Pflegeformen
Beide Anreize haben Wirkung gezeigt: Derzeit ist auf Grundlage verschiedener Studien bei steigender Tendenz von bis zu 8.000 betreuten Wohnanlagen mit etwa 150.000 Pflegebedürftigen und rund 4.000 Pflege-Wohngemeinschaften mit etwa 31.000 Pflegebedürftigen auszugehen, von denen nach Hochrechnungen der BARMER-Daten 20.400 auch den Wohngruppenzuschlag der Pflegeversicherung nutzen.

Finanzielle Konsequenzen aus den neuen Wohn- und Pflegeformen
Obwohl in den neuen Wohn- und Pflegeformen die maximalen Leistungssummen nicht gänzlich genutzt werden, liegen die tatsächlich in Anspruch genommenen Leistungssummen in der Regel oberhalb der Leistungssummen, die in der stationären Versorgung genutzt werden. In der Summe resultieren daraus im Jahr 2018 in betreutem Wohnen Mehrausgaben von 215 Millionen Euro gegenüber der vollstationären Versorgung. Für die geschätzten 20.400 Bewohner von Pflege-Wohngemeinschaften, die den Wohngruppenzuschlag der Pflegeversicherung nutzen, ergeben sich im Vergleich zur Versorgung im Pflegeheim Mehrausgaben von 184 Millionen Euro im Jahr 2018.

Keine bessere Pflegequalität in den neuen Wohn- und Pflegeformen
Hinsichtlich der pflegerelevanten Outcomes in betreutem Wohnen und in den Pflege-Wohngemeinschaften wurden in bisherigen Studien kaum signifikante Effekte gefunden. In der Summe zeigen sich positive Effekte auf Bewohnerebene eher in umfassenden Konstrukten wie Lebensqualität.
Mit den BARMER-Daten sind die Pflegebedürftigen in betreutem Wohnen und in Pflege-Wohngemeinschaften mit den Pflegebedürftigen im Pflegeheim anhand von fünf Qualitätsindikatoren verglichen worden. Bei den Bewohnern in betreutem Wohnen und in den Pflege-Wohngemeinschaften sind Arztkontakte seltener und auch die Verordnungen von Antipsychotika. In betreutem Wohnen werden aber mehr Neudiagnosen von Dekubitus und mehr ambulant-sensitive Krankenhausfälle (Krankenhausfälle mit Entlassungsdiagnosen, bei denen unterstellt wird, dass sie oftmals vermieden werden könnten, wenn eine angemessene ambulante Versorgung stattgefunden hätte) festgestellt.
Eine höhere Leistungssumme ist somit nicht mit einer besseren Pflegequalität verbunden. Entsprechende Versorgungsangebote sind daher kritisch zu sehen.

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BARMER Pflegereport 2019
Statement von Prof. Rothgang anlässlich der Pressekonferenz
Folienvortrag von Prof. Rothgang anlässlich der Pressekonferenz


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Cover Pflegereport 2018Cover Pflegereport 2018
Autorenteam des SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen erstellt Pflegereport 2018 im Auftrag der BARMER.

Heute wurde im Tagungszentrum im Haus der Bundespressekonferenz der diesjährige BARMER Pflegereport vorgestellt. Darin wurden insbesondere die Belastungssituationen und die Gesundheitszustände von Hauptpflegepersonen analysiert. Zudem wurden die Auswirkungen der jüngsten Pflegereformen auf die Versorgung der Pflegebedürftigen untersucht. Die Autoren Professor Dr. Heinz Rothgang und Dr. Rolf Müller liefern weiterhin vertiefende Untersuchungen zu Fallzahlen, Inzidenzen, Prävalenzen und Pflegeverläufen. Wesentliche Datengrundlagen sind die Pflegestatistik 2015, die Routinedaten der BARMER sowie eine eigens für das Schwerpunktthema durchgeführte Befragung von 1.862 Versicherten der BARMER.

Pflegegrade statt Pflegestufen führen zum Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen

Mit der Umstellung von Pflegestufen auf Pflegegrade zum 1. Januar 2017 haben sich die Kriterien für die Zugangsberechtigung zu Versicherungsleistungen geändert. Die kognitiven Einschränkungen sind nun definitorischer Bestandteil der Pflegebedürftigkeit und die Zugangshürde zu Versichertenleistungen abgesenkt. Entsprechend ist mit der Umstellung von Pflegestufen auf Pflegegrade die Zahl der positiven Begutachtungen deutlich gestiegen. Ausweislich der hochgerechneten BARMER-Daten stieg die Zahl der Pflegebedürftigen zwischen 2015 und 2017 um 17,9 %. Davon entfallen knapp 13 Prozentpunkte auf die Steigerung bei Pflegegrad 1 und Pflegegrad 2.

Ausweitung des Leistungsanspruchs führt zu höheren Kosten

Reformbedingt gab es im Jahr 2017 Ausgabensteigerungen von rund 7 Milliarden Euro für die Soziale Pflegeversicherung. Dem stehen reformbedingte Mehreinnahmen von 2,8 Milliarden Euro gegenüber, was zu einem reformbedingten Defizit von 4,2 Milliarden Euro führt. Lediglich aufgrund des zuvor bestehenden Überschusses und der günstigen Entwicklung der Grundlohnsumme liegt das tatsächliche Defizit 2017 bei lediglich 2,4 Milliarden Euro.

Die Mehrzahl der Pflegebedürftigen wird von pflegenden Angehörigen versorgt

Rund 2,5 Millionen Pflegebedürftige wurden im Dezember 2017 durch eine Hauptpflegeperson versorgt. Zwei Drittel der Hauptpflegepersonen sind Frauen, ein Drittel Männer. Nur ein Drittel der Hauptpflegepersonen aus der BARMER-Versichertenbefragung 2018 hat eine aktuelle Erwerbstätigkeit angegeben. Allerdings hat ein Viertel angegeben, wegen der Pflege die Erwerbstätigkeit reduziert oder aufgegeben zu haben.

Die formelle und die informelle Unterstützung ist oft nicht ausreichend

Die Hauptpflegeperson muss in der Regel mehrere Aufgaben (beispielsweise Medikamentenversorgung, Unterstützung beim Essen, Unterstützung bei der Mobilität, Unterstützung beim Toilettengang) übernehmen. Sechs von zehn Hauptpflegepersonen wünschen sich in mindestens einem der 11 abgefragten Aufgabenbereiche weitere Hilfe. Neben dieser generellen Bedarfslage gibt es Probleme bei der Vertretung. Deutlich mehr als die Hälfte hat gar keine Möglichkeiten, jemanden zu finden, der sich eine oder mehrere Wochen um die pflegebedürftige Person kümmert, so dass die Hauptpflegeperson pausieren kann.
Häufig werden wegen hoher Kosten, vermuteter geringer Qualität, fehlender Angebote oder hohem Organisationsaufwand Angebote nicht genutzt. Es wird ein Bedarf deutlich, der aber aus Gründen der Angebotsstruktur oder des Aufwands nicht befriedigt werden kann. Dies betrifft bei der Tagespflege rund 378.000 (= 15,3 %), beim Pflegedienst 188.000 (= 7,6 %), bei der Kurzzeitpflege 437.000 (= 17,7 %) und bei den niedrigschwelligen Betreuungs- und Haushaltshilfen 379.000 (= 15,3 %) der Hauptpflegepersonen.

Hauptpflegepersonen sind häufig höher belastet und häufiger krank

Von den Hauptpflegepersonen kommen 87,5 % nach eigenen Angaben meistens oder immer gut mit der Pflege zurecht. Dennoch bekommt ein Großteil nicht genug Schlaf (38,0 %), fühlen sich 29,9 % der Hauptpflegepersonen in der Rolle als Pflegender gefangen, ist jedem Fünften (20,4 %) die Pflege häufig zu anstrengend, wirkt bei 22,7 % die Pflege negativ auf die Freundschaftsverhältnisse und hat jeder Fünfte (18,8 %) Zukunfts- und Existenzängste.
Pflegende Angehörige sind nicht nur kränker, sie werden auch durch die Pflege kränker. Psychische Leiden sind bei Hauptpflegepersonen mit 48,7 % im Dezember 2017 sehr häufig. In einer nach Alter und Geschlecht strukturgleichen nicht pflegenden Vergleichspopulation haben nur 42,5 % solche Diagnosen. Die Erkrankungshäufigkeit hat bei den Hauptpflegepersonen in den letzten fünf Jahren um 9,1 Prozentpunkte zugenommen und in der Vergleichsgruppe nur um 5,7 Prozentpunkte.

Zukunftsszenarien der Hauptpflegepersonen

Hochgerechnet ergibt sich aus der BARMER-Versichertenbefragung 2018 eine Gesamtzahl von mindestens 185.000 Hauptpflegepersonen, die kurz davorstehen, die Pflege einzustellen. Weitere über eine Million Hauptpflegepersonen wollen die Pflege nur fortsetzen, solange sich nichts an der Situation ändert. Da sich die Pflegesituation aber häufig im Zeitverlauf verschlechtert, kann auch für diese Gruppe nicht unterstellt werden, dass sie weiterhin die Pflege übernehmen. Insgesamt ist das eine bedrohliche Ausgangslage.
Hauptpflegepersonen wünschen sich weniger Bürokratie bei Antragstellungen, würden gern bei Fragen immer dieselbe Fachkraft kontaktieren, hätten gern eine bessere Aufklärung über die Leistungen der Pflegeversicherung und darüber, woher man Hilfe bekommt. Den Pflegenden mit einem Hilfebedarf ist es vor allem wichtig, zu wissen, woher sie Hilfe bekommen können. Hier zeigt sich Handlungsbedarf seitens der zentralen Akteure der Pflegelandschaft und der Politik.

Download:
BARMER Pflegereport 2018
Statement von Prof. Rothgang anlässlich der Pressekonferenz
Folienvortrag von Prof. Rothgang anlässlich der Pressekonferenz


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SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik
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Barmer-Pflegereport 2017Barmer-Pflegereport 2017
Autorenteam des SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen erstellt Pflegereport 2017 im Auftrag der BARMER.

Heute wurde im Tagungszentrum im Haus der Bundespressekonferenz der diesjährige BARMER Pflegereport vorgestellt. Darin wurden insbesondere die unterschiedliche Bedarfs- und Versorgungslage von jungen Pflegebedürftigen (0 bis 59 Jahre) analysiert. Zudem wurden die Auswirkungen der jüngsten Pflegereformen auf die Versorgung der Pflegebedürftigen untersucht. Die Arbeitsgruppe des SOCIUM unter Leitung von Professor Heinz Rothgang, bestehend aus Dr. Rolf Müller, Rebecca Runte und Dr. Rainer Unger liefert dazu auch vertiefende Untersuchungen zu Fallzahlen, Inzidenzen, Prävalenzen und Pflegeverläufen. Wesentliche Datengrundlagen sind die Pflegestatistik 2015, das sozio-ökonomische Panel, die Routinedaten der BARMER sowie eine eigens für das Schwerpunktthema durchgeführte Versichertenbefragung.

Leistungsausweitung lässt die Zahl der Pflegebedürftigen steigen
Die Leistungsausweitungen der Pflegeversicherung führt - zusätzlich zum demografischen Effekt - zu einer steigenden Zahl Pflegebedürftiger, da sich aufgrund der neuen oder erhöhten Leistungen mehr Menschen als bisher einer Pflegebegutachtung unterziehen. Gleichzeitig ist die Prävalenz hoher Pflegstufen (jetzt Pflegegraden) tendenziell rückläufig.

Pflegebedürftigkeit ist auch unter jungen Menschen sehr häufig
Langzeitpflege betrifft nicht nur alte Menschen. Von den 2,86 Millionen in der Pflegestatistik 2015 ausgewiesenen Pflegebedürftigen mit Pflegestufe I-III waren 386.000 und damit 13,5% jünger als 60 Jahre. Sie unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von älteren Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind. Während der weitaus größere Teil der Pflegebedürftigen weiblich ist, verhält es sich bei den jüngeren genau entgegengesetzt. So gab es im Jahr 2015 "nur" 175.000 weibliche, aber dafür 211.000 männliche Pflegebedürftige bis 59 Jahre.

Junge Pflegebedürftige haben andere Erkrankungen und Behinderungen
Mit der Pflegebedürftigkeit älterer Menschen werden Erkrankungen wie Demenz und Schlaganfall in Verbindung gebracht; bei jungen Pflegebedürftigen findet sich hingegen eine Reihe anderer Erkrankungen und Störungen. Von den jungen Pflegebedürftigen haben 35 Prozent Lähmungen, 32 Prozent Intelligenzminderungen, 24 Prozent Epilepsie, 22 Prozent Entwicklungsstörungen und zehn Prozent das Down-Syndrom. Dafür sind Demenzen und Schlaganfälle bei jungen Pflegedürftigen deutlich seltener. Das geringere Alter in Verbindung mit diesem Erkrankungsspektrum führt zu einer höheren Überlebensrate und zu einer höheren Austrittsrate aus der Pflegebedürftigkeit.
Insgesamt 89 Prozent der jungen Pflegebedürftigen haben einen Grad der Behinderung von mindestens 20 und damit Ansprüche auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 33 SGB IX) und am Leben in der Gemeinschaft (§ 55 SGB IX). Insbesondere für junge Pflegebedürftige ist das abgestimmte Zusammenwirken der verschiedenen Leistungsträger daher von zentraler Bedeutung.

Der Wunsch nach selbstbestimmtem Wohnen bleibt häufig unerfüllt
Für das Schwerpunktthema des Reports wurde eine Befragung von BARMER-Versicherten im Alter bis zu 59 Jahren durchgeführt, bei deren Auswertung insgesamt 1.747 vollständig ausgefüllte Fragebögen berücksichtigt werden konnten. Gemäß den Befragungsergebnissen wünschen sich junge Pflegebedürftige häufig ein Leben in Wohngruppen, in betreuten Wohngemeinschaften, in einer eigenen Wohnung oder in Behinderteneinrichtungen. An Versorgungsangeboten mangelt es aber. Am höchsten ist die Zufriedenheit mit der eigenen Wohnsituation bei den Alleinlebenden (93 Prozent) und den in Partnerschaft Lebenden (91 Prozent); am geringsten ist sie bei den Bewohnern von Pflegeheimen (63 Prozent). Der Wunsch, die gegenwärtige Wohnsituation zu ändern, besteht vielfach. So wünschen sich rund 35 Prozent der 10- bis 29-Jährigen in Wohngruppen oder betreute Wohngemeinschaften zu ziehen. Rund die Hälfte findet aber kein passendes Angebot.

Versorgungslücken zeigen sich bei Kurzzeitpflege und Tagespflege
Ein Mangel an alters- oder erkrankungsgerechten Versorgungsangeboten wird auch bei Kurzzeitpflege oder Tagespflege festgestellt. Der in der Versichertenbefragung geäußerte Wunsch nach Kurzzeitpflege und Tagespflege ist etwa doppelt so groß wie die angegebene derzeitige Nutzung. Im Resultat wird damit ein zusätzlicher Bedarf an von 3.400 Kurzzeitpflegplätzen und 4.000 Tagespflegeplätzen deutlich. Die Kurzzeitpflege und Tagespflege wird in den bestehenden Formen überwiegend deshalb nicht genutzt, weil sie als nicht altersgerecht und nicht angepasst an die eigene Erkrankung empfunden wird.

Versorgungsqualität wird von jungen Pflegebedürftigen in Behinderteneinrichtungen und Wohngruppen als besser bewertet
Bei der Bewertung der Versorgungsqualität durch junge Pflegebedürftige schnitten Pflegeheime und häusliche Versorgungssettings mit Pflegediensten schlechter ab als die Versorgung im Behindertenheim oder in den Wohngruppen. Auch dies ist ein Indiz dafür, dass die Versorgung der jungen Pflegebedürftigen in Teilen am Bedarf (Wunsch nach mehr Versorgung in Wohngruppen und im Behindertenwohnheim bei entsprechender Qualität) vorbei geht.

Download:
Barmer-Pflegereport 2017
Statement von Prof. Rothgang anlässlich der Pressekonferenz am 09.11.2017
Vortrag von Prof. Rothgang anlässlich der Pressekonferenz am 09.11.2017
Infografiken zum Barmer-Pflegereport


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Prof. Dr. Heinz Rothgang
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Autorenteam des SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen erstellt Pflegereport 2016 im Auftrag der BARMER GEK.

Heute wurde auf der Bundespressekonferenz der neunte BARMER GEK Pflegereport vorgestellt. Darin wurden insbesondere die Auswirkungen der jüngsten Pflegereformen auf die Versorgung der Pflegebedürftigen untersucht. Die Arbeitsgruppe des SOCIUM unter Leitung von Professor Heinz Rothgang, bestehend aus Thomas Kalwitzki, Rolf Müller, Rebecca Runte und Rainer Unger, untersucht dabei auch die regionalen Unterschiede der Bedarfslagen und der Angebotsstrukturen. Wesentliche Datengrundlagen sind die Pflegestatistik, die rund 2,6 Millionen Pflegebedürftige ausweist, das sozio-ökonomische Panel und die Routinedaten der BARMER GEK, die rund zehn Prozent der Bevölkerung abbilden.

Zentrale Ergebnisse des Reports sind:

  1. Die bisherigen Schritte der Pflegereform zeigen Wirkung. Im Pflege-Neuausrichtungsgesetz (2012) und dem Ersten Pflegestärkungsgesetz (2015) wurden gezielt Leistungen für Menschen mit Demenz verbessert und die Möglichkeiten, Verhinderungspflege und Teilzeitpflege in Anspruch zu nehmen, flexibilisiert. Tatsächlich zeigt sich eine deutliche Steigerung der Inanspruchnahme gerade dieser Leistungen. Auch bei der zahnmedizinischen Versorgung in Pflegeheimen, die ebenfalls Gegenstand diverser Neuregelungen war, zeigen sich Verbesserungen.

  2. Die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs im PSG II ist eine sehr großzügige und damit auch sehr teure Reform. Nach im Report vorgestellten Berechnungen ist für 2017 mit Mehrausgaben im Vergleich zum Status quo von mehr als 7 Mrd. Euro zu rechnen. Gleichzeitig werden durch eine Beitragssatzsteigerung Mehreinnahmen generiert, die aber auch in Verbindung mit den Überschüssen, die die Pflegeversicherung derzeit erzielt, nicht ausreichen, die Mehrkosten zu finanzieren. Für 2017 ist daher mit einem strukturellen Defizit von mehr als 3 Mrd. Euro zu rechnen.

  3. In Pflegeheimen führen die Mehrausgaben zu einer finanziellen Entlastung der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen sowie subsidiär der Sozialhilfeträger. Die Einnahmen der Pflegeheime steigen dagegen nicht entsprechend. Die Reform führt daher nicht zu einer besseren Personalausstattung der Pflegeheime. Sollen die Personalschlüssel in Heimen merklich verbessert werden, sind hierzu in den nächsten Jahren weitere Reformanstrengungen notwendig.

  4. Bei Betrachtung der Situation auf Länderebene zeigen sich sehr große Unterschiede. Diese beziehen sich auf die Entwicklung der Zahl der Pflegebedürftigen ebenso wie auf die Anteile der stationär, ambulant und mit Pflegediensten versorgten Pflegebedürftigen, die Kapazitäten des ambulanten und stationären Sektors und das Ausmaß der zukünftigen Personallücke in der Pflege. Diese Unterschiede machen deutlich, dass Pflege regional bzw. lokal gedacht und geplant werden muss.

Download:
BARMER GEK Pflegereport 2016
Statement von Prof. Rothgang anlässlich der Pressekonferenz am 24.11.2016
Folienvortrag von Prof. Rothgang anlässlich der Pressekonferenz am 24.11.2016


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Cover Pflegereport 2015Cover Pflegereport 2015
Autorenteam des SOCIUM der Universität Bremen erstellte Pflegereport 2015 im Auftrag der BARMER GEK.

Die wissenschaftliche Analyse der Pflege zu Hause mittels einer eigens dazu durchgeführten Befragung von insgesamt 1.850 Versicherten ist Schwerpunktthema des BARMER GEK-Pflegereports 2015, der heute in der Bundespressekonferenz in Berlin vorgestellt wurde. Er ist bereits zum achten Mal von einer Arbeitsgruppe des SOCIUM (zuvor: Zentrum für Sozialpolitik) der Universität Bremen unter Leitung von Professor Heinz Rothgang erstellt worden. Neben dem Schwerpunktthema untersucht das Autorenteam - neben Heinz Rothgang sind das Thomas Kalwitzki, Rolf Müller, Rebecca Runte und Rainer Unger - darin zusätzlich zentrale Entwicklungen in der Pflege. Wesentliche Datengrundlagen sind die Pflegestatistik, die rund 2,6 Millionen Pflegebedürftige ausweist, das sozio-ökonomische Panel und die Routinedaten der BARMER GEK, die rund zehn Prozent der Bevölkerung abbilden.

Die Hälfte der Pflegebedürftigen wohnt in nicht altengerechten Wohnungen - dennoch werden Versicherungsleistungen zum Wohnungsumbau kaum genutzt

Mehr als die Hälfte der Pflegebedürftigen in häuslicher Pflege wohnt in nicht altengerechten Wohnungen. Dies lässt erwarten, dass die Zuschüsse der Pflegeversicherung von inzwischen bis zu 4.000 € für wohnumfeldverbessernde Maßnahmen, die die Pflege in der eigenen Häuslichkeit ermöglichen oder erleichtern sollen, intensiv genutzt werden. Dies umso mehr als insgesamt mehr als 97 % der befragten Versicherten, die einen solchen Zuschuss in Anspruch genommen haben, die Leistung für sehr hilfreich halten. Tatsächlich nutzen pro Jahr aber nur rund 3,5 % der Pflegebedürftigen in häuslicher Pflege (= 65 Tsd.) diese Möglichkeit. Die sechs am häufigsten genutzten Leistungen waren in der Reihenfolge: Dusche, Treppenlift, Handlauf, WC, Haltegriff, Rampe. Hauptsächlich zwei Gründe sind für die geringe Nutzung des Zuschusses verantwortlich. Zum einen mussten 72 % der Nutzer Zuzahlungen zu den Wohnungsumbauten entrichten, die sicherlich eine abschreckende Wirkung hatten. Durch die Anhebung des Zuschusses von 2.557 € auf 4.000 € zum 1. Januar 2015 hat sich dieser Anteil verringert. Hätte die neue Obergrenze schon 2014 gegolten, läge der Anteil der Nutzer mit Zuzahlung bei nur noch 47 %. Zum anderen gelingt es den zuständigen Stellen nicht ausreichend, den Leistungsanspruch zu kommunizieren: nur die Hälfte der Nutzer hat die Information über diesen Anspruch von Kasse, Medizinischem Dienst oder Pflegestützpunkt erhalten, knapp ein Drittel derer, die keinen Zuschuss beantragt haben, gaben an, nicht zu wissen, dass es derartige Versicherungsleistungen gibt, und fast die Hälfte der Befragten, die auf eigene Rechnung Umbaumaßnahmen finanziert haben (N=68), wussten nicht, dass es Zuschüsse der Pflegeversicherung für Wohnungsumbauten gibt. Hier bestehen noch unübersehbare Informationslücken.

Pflegestärkungsgesetz II - eine sehr großzügige Reform

Das letzte Woche im Bundestag beschlossene Pflegestärkungsgesetz II enthält als zentrale Neuerung den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, dessen Einführung schon seit Jahren gefordert wird. Die Umsetzung erweist sich dabei in mehrfacher Hinsicht als unerwartet großzügig: Erstens wurde die Bewertungssystematik des Neuen Begutachtungsassessment gegenüber den Empfehlungen des Expertenbeirats mehrfach so verändert, dass mehr Personen als pflegebedürftig gelten und dabei gleichzeitig mehr Personen in höhere Pflegegrade gelangen. Zweitens wurde auch für die Überleitung der bereits anerkannten Pflegebedürftigen von Pflegestufen in Pflegegrade von den drei Vorschlägen des Expertenbeirates wiederum der großzügigste gewählt. Drittens wurden die Leistungshöhen für die neuen Pflegegrade so festgelegt, dass die im (Pflegeneuausrichtungsgesetz) PNG ausdrücklich als Übergangs-leistungen charakterisierten Leistungen nunmehr dauerhaft gewährt werden und das nicht nur für die Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz, sondern für alle Pflegebedürftigen. Schließlich ist ein umfassender Bestandsschutz vorgesehen. Im Ergebnis werden im ambulanten Bereich zum Umstellungszeitpunkt mehr als 95 % der dann Leistung Beziehenden besser gestellt und niemand schlechter. Auch bei langfristiger Betrachtung gibt es nur wenige Personen, die sich dann im neuen System schlechter stellen werden als im alten.

Anzahl der Pflegebedürftigen steigt stärker als bisher angenommen, die Pflege wird "männlicher" und der Anteil hochaltriger Pflegebedürftiger steigt

Auf Basis des Zensus von 2011 und der - neuen - 13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes steigt die Anzahl der Pflegebedürftigen bis zum Jahr 2060 (2055) auf 4,52 Mio. (4,64 Mio.) und damit um zusätzliche 221 Tsd. (164 Tsd.) Pflegebedürftige gegenüber früheren Projektionen. Die Pflege wird dabei insgesamt "männlicher", da bis zum Jahr 2060 von zusätzlichen 176 Tsd. pflegebedürftigen Männern, aber "nur" von zusätzlichen 45 Tsd. pflegebedürftigen Frauen auszugehen ist. Weiterhin ist von einer drastischen Alterung der Pflegebedürftigen auszugehen, die etwa ab dem Jahr 2040 einsetzt. Waren im Jahr 2015 rund 30 % aller pflegebedürftigen Männer 85 Jahre und älter, so erhöht sich deren Anteil bis zum Jahr 2060 auf knapp 60 %. Auch bei den Frauen zeigt sich eine deutliche Zunahme der Hochaltrigkeit. Während der Anteil der Frauen im Alter 85 und darüber im Jahr 2015 bei etwa 50 % lag, erhöht sich dieser Anteil bis zum Jahr 2060 noch weiter auf dann knapp 70 %. In Zukunft wird somit zunehmend die Pflege hoch betagter Menschen und adäquater Versorgungsstrukturen im Vordergrund stehen.

Download:
BARMER GEK Pflegereport 2015
BARMER GEK Pflegereport 2015 Pressemappe


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Versorgung bei Schlaganfall und bei COPD.

Knapp 85 Prozent aller Patientinnen und Patienten über 65 Jahre werden in Deutschland nach einem Schlaganfall entweder rehabilitativ oder mit Heilmitteln behandelt. Allerdings klaffen weiterhin Lücken bei der ganzheitlichen und interdisziplinären Versorgung im Krankenhaus. So wird nur gut jeder Zweite auf einer speziellen Schlaganfallstation, einer sogenannten Stroke Unit, behandelt. Im Jahr 2012 bekam nur gut die Hälfte der über 65-jährigen Schlaganfallpatienten eine neurologische Komplexbehandlung, die auf einer Spezialstation unter anderem mit Neurologen, Logopäden und Physiotherapeuten erfolgt. Bei einem Schlaganfall kommt es auf Minuten und eine sehr individuelle Behandlung an, die eine Spezialstation am besten leisten kann. Hier scheinen noch Verbesserungen in der Akutversorgung des Schlaganfalls möglich zu sein.

Von den betroffenen Schlaganfallpatienten bekamen 54,7 Prozent eine neurologische Komplexbehandlung und 7,1 Prozent eine Frührehabilitation im Krankenhaus. 90,8 Prozent der Patienten überlebten ihren Schlaganfall dank der guten medizinischen Versorgung in den Kliniken. Erstaunlich ist, dass lediglich 38,7 Prozent dieser Patienten eine Rehabilitation begannen, überwiegend direkt nach dem Klinikaufenthalt. In den ersten drei Monaten nach dem Krankenhausaufenthalt bekamen 21 Prozent der Patienten eine normale und 14,5 Prozent eine spezielle Krankengymnastik verordnet, 11,6 Prozent eine Ergotherapie.

Mangelhafte Therapie-Leitlinien
Die rehabilitative Versorgung nach einem Schlaganfall erscheint überwiegend kurzfristig ausgerichtet. In den medizinischen Leitlinien fehlen Empfehlungen, ob und unter welchen Bedingungen eine längerfristige Therapie sinnvoll ist. Eine Überarbeitung der Schlaganfall-Leitlinien wäre sinnvoll, um die Therapie, so individuell sie auch sein mag und muss, nachhaltiger anzulegen. Die Leitlinien zu den rehabilitativen Maßnahmen nach einem Schlaganfall entsprechen zu oft nicht den höchsten wissenschaftlichen Standards. Im Sinne einer bestmöglichen Patientenversorgung sind weitere Studien erforderlich, um die Leitlinien zur rehabilitativen Schlaganfallbehandlung zu optimieren.

Steigende Ausgaben bei Heil- und Hilfsmitteln
Die Kosten für Heilmittel, zu denen die Physio-, Ergo- und Logopädie gehören, sind im Jahr 2014 in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) um 8,1 Prozent auf 5,69 Milliarden Euro gestiegen. Bei der Barmer GEK erhöhten sich die Ausgaben um 8,2 Prozent auf 760,5 Millionen Euro. Die höchsten Ausgaben kamen dabei in der Physiotherapie mit 66,59 Euro je Versicherten (plus 7,67 Prozent gegenüber dem Vorjahr) zustande, gefolgt von der Ergotherapie mit 12,37 Euro (plus 8,48 Prozent), der Logopädie mit 8,27 Euro (plus 8,62 Prozent) und der Podologie mit 1,60 Euro (plus 17,04 Prozent).

Umfassende Nutzenbewertung erforderlich
Bei den Hilfsmitteln, zu denen etwa Rollstühle und Hörgeräte gehören, stiegen die Kosten GKV-weit um 9,4 Prozent auf 7,44 Milliarden Euro. Bei der Barmer GEK schnellten sie um 10,9 Prozent auf 836,4 Millionen Euro nach oben. Auch bei den Hilfsmitteln fehlen in vielen Bereichen Nutzenbewertungen. Es ist nicht zielführend, nur Medizinprodukte mit einer hohen Risikoklasse zu prüfen, wie es das Versorgungsstärkungsgesetz vorgibt.
Insgesamt haben im Jahr 2014 bei der Barmer GEK 1,9 Millionen Versicherte Heilmittel und 2,0 Millionen Versicherte Hilfsmittel verordnet bekommen. Das ist ein Anstieg um jeweils 3,2 Prozent innerhalb eines Jahres, der nach Einschätzung der Autoren nur schwerlich auf die demografische Entwicklung zurückgeführt werden kann.

Fakten aus dem Heil- und Hilfsmittelreport 2015
Ausgaben für Heilmittel: Mit 7,25 Prozent sind die Ausgaben für die Podologie auf rund 13,7 Millionen Euro im Jahr 2014 gestiegen. Dabei gab es massive regionale Unterschiede. Während die Ausgaben für die Fußpflege in Bremen innerhalb eines Jahres um gut fünf Prozent gesunken sind, sind sie in Brandenburg um rund 30 Prozent gestiegen. Den größten Ausgabenblock machte die Physiotherapie für rund 1,769 Millionen Versicherte mit etwa 569,6 Millionen Euro aus. Der Zuwachs lag hier bei 4,47 Prozent. 105.600 Versicherte erhielten Ergotherapie, die mit rund 105,8 Millionen Euro (plus 1,97 Prozent) zu Buche schlug. 70,7 Millionen Euro (plus 4,73 Prozent) bezahlte die Barmer GEK für logopädische Leistungen an gut 89.000 Versicherten (Report Seite 33).

Ausgaben für Hilfsmittel: Innerhalb nur eines Jahres haben sich die Ausgaben für Hörgeräte-Akustiker deutlich erhöht. Sie sind um 47,5 Prozent auf 102,1 Millionen Euro gestiegen. Vergleichsweise moderat sind die größten Kostenblöcke gewachsen. So sind die Ausgaben für Orthopädiemechaniker und Bandagisten um 8,3 Prozent auf 417,7 Millionen Euro und für sonstige Leistungserbringer wie die häusliche Krankenpflege um 3,9 Prozent auf 201 Millionen Euro angewachsen (Seite 52 ff.).

Viele Einlagen-Verordnungen, teure Inhalationsgeräte: Die am häufigsten verordneten Hilfsmittel waren Einlagen. 5,8 Prozent der Männer und 8,9 Prozent der Frauen haben sie im Jahr 2014 verschrieben bekommen. Es folgten Orthesen und Schienen für 3,3 Prozent der Männer und 4,6 Prozent der Frauen. Nur an zehnter Stelle lagen die Verordnungen von Inhalations- und Atemtherapiegeräten. Allerdings machten sie mit 119 Millionen Euro den größten Ausgabenblock bei den Hilfsmitteln aus (Seite 58).

Regionale Unterschiede: Der Report berichtet über deutliche regionale Differenzen bei der Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln. So bekamen in Sachsen fast 92 Prozent der Patienten eine Physiotherapie, wenn der Arzt bei ihnen schweren Erkrankungen wie Multiple Sklerose oder Parkinson diagnostiziert hat. Im Saarland waren es knapp 52 Prozent (Seite 42).

Download: BARMER GEK Heil- und Hilfsmittelreport 2015


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Dipl.-Soz. Friederike Höfel